Er war ein Mann Gottes
ich von klein auf wie eine Erwachsene zu funktionieren und mich selbst zu beschäftigen, mir selbst zu helfen.
Mit Gleichaltrigen unter der Obhut von Frederic und den älteren Oberministranten zusammensitzen zu können und sorglos draufloszuschwatzen, zu lachen, albern zu sein, einfach Kind zu sein, bedeutete für mich viel mehr als das, was es war. Und obwohl die anderen »Minis« frotzelten, dass ich ja wohl arg in den neuen Vikar verschossen sei, gehörte ich erstmals wie selbstverständlich zu ihnen. Diese Gemeinschaft war eine Erlösung aus dem Zwang, selbständig sein zu müssen, der mir immer auferlegt worden war und der mich von klein auf überfordert hatte.
Ich genoss das Schwatzen und fröhliche Zusammensein mit meinen neuen Freundinnen und Freunden nach der »Spätschicht« ebenso wie zur »Frühschicht«, wenn wir alle noch lange draußen vor der Kirche beisammenstanden.
Anders als in der Schule ging es dabei weniger um Schminke, Klamotten, Liebeskummer und Knatsch mit diesem oder jenem Pauker. Wir befassten uns mit dem Glauben, mit Gott und der Welt, mit Umweltschutz sowie aktiver Nächstenliebe im Altenheim oder Krankenhaus. Kein blöder Kinderkram, sondern das echte Leben. Obwohl wir Kinder und Jugendliche waren, gab uns das Ministrantenamt echte Aufgaben und Verantwortungsbewusstsein. So kam es mir damals, in der Anfangszeit meiner neuen Kirchenverbundenheit, jedenfalls vor.
Ich liebte die »Minis«, wie wir uns als Ministrantengruppe bezeichneten. Frederic hatte es verstanden, uns zusammenzuschweißen. Er regelte aufkommende Streitigkeiten, klärte Eifersüchteleien und Rangeleien. Erstmals gehörte auch ich zu einer Gruppe, einer verschworenen Clique, ohne mich immer wieder aufs Neue darum bemühen zu müssen, anerkannt zu werden.
Wenn wir uns am Wochenende zu so genannten Besinnungswochenenden auf einer abseits gelegenen Hütte im Schwarzwald trafen, um zu beten, zu meditieren, zu spielen und Gemeinschaft zu pflegen, hatte ich das so schmerzlich entbehrte Gefühl, endlich angekommen zu sein, dazuzugehören, willkommen und mitten drin zu sein.
Missverstanden und verraten
Meine Eltern wunderten sich nicht darüber, dass ich, eine passionierte Langschläferin, plötzlich mitten im Winter freiwillig und regelmäßig zeitig aufstand und zur Kirche ging. Obwohl es noch dunkel war, wenn ich aus dem Haus ging, hatten sie nichts dagegen einzuwenden.
Wir wohnten weit außerhalb des Ortszentrums, und von uns bis zur Kirche war es kein kurzer Weg. Streckenweise war der überwiegend an kleinen Vorgärten verlaufende Bürgersteig auch in Richtung Straße hinter einer Hecke verborgen. Hinzu kamen zur Winterzeit die hoch aufgeschobenen Schneemassen, die den Bürgersteig zur Straßenseite hin einengten. Da aus Energiespargründen nur jede zweite Laterne brannte, waren speziell diese Wegstücke mir unheimlich.
Meine Eltern hingegen dachten sich nichts dabei. Sie fragten mich nicht einmal, warum ich plötzlich in den Frühgottesdienst wollte. Wie in unserer Familie üblich, fragte auch ich meine Eltern nicht, warum sie mit meiner Teilnahme am Frühdienst einverstanden waren. Hätten sie nur eine Frage gestellt, wären die Antworten nur so aus mir herausgesprudelt.
Manchmal, wenn schlechtes Wetter war, überlegte ich, ob ich sie bitten sollte, mich zur Kirche zu fahren. Aber ich wagte es nicht. Es war für mich zur Selbstverständlichkeit geworden, dass meine Mutter nicht belastet werden durfte. Und mein Vater musste sich ganz allein um sein Kaufhaus und besonders um meine Mutter kümmern. Ich sah jeden Abend, wie müde und fertig er vor dem Fernsehapparat saß oder wie lang oftmals noch Licht in seinem Arbeitszimmer brannte, weil er über irgendwelchen Bilanzen brütete.
Meine Angelegenheiten waren im Vergleich dazu immer klein und simpel. Ich hatte sie selbst zu bewältigen.
Hinzu kam, dass ich mit der Zeit den Eindruck gewonnen hatte, es meinen Eltern mit nichts recht machen zu können.
»Frag sie doch, warum sie dir nichts Zutrauen«, schlug Franziska vor.
»Alles zwecklos«, gab ich zurück und winkte ab. »Für sie bin ich sowieso bloß eine Versagerin.«
»Und wieso?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Es ist eben so. Denk mal ans Kochen.«
Obwohl ich in der Schule wegen meiner Mutter an einer freiwilligen Arbeitsgruppe in Hauswirtschaft und Kochen teilnahm, durfte ich zu Hause nur einmal pro Monat Schnitzel mit Pommes Frites und Salat zubereiten. Nichts sonst. Und selbst
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