Er war ein Mann Gottes
die nächste Katastrophe.
Als ich am Morgen nach der Hiobsbotschaft von Maxens Verhaftung wie gerädert aufstand, hatte ich einen Entschluss gefasst. Frederic wie Max hatten Kinder sexuell missbraucht. Beide waren geweihte Priester. Folglich mussten beide ganz ähnliche, wenn nicht identische Motive dafür gehabt haben. Diese wollte ich kennen lernen.
Von Frederic würde ich niemals erfahren, warum er mir das angetan hatte. Niemals würde er mir sagen, ob er mich geliebt oder ob er mich tatsächlich bloß benutzt hatte, um sich sexuell an mir abzureagieren, weil er wusste, dass ich ein Kind war und mich nicht gegen ihn wehren konnte.
Die ganze Zeit über hatte ich mir eingeredet, das alles gar nicht mehr wissen zu wollen. Jetzt auf einmal wurde mir klar: Ich musste dahinterkommen. Ich meinte, nie frei von Frederic und meiner Schuld zu werden, wenn ich es nicht erfahren würde.
Max schien mir der einzige Mensch, der mir jemals würde erklären können, was einen Priester dazu bewegte, Sex mit einem Kind zu haben. Deshalb musste ich mit ihm Kontakt aufnehmen. Ihm zu schreiben schien meine einzige Chance, jemals zu verstehen, was mir durch Frederic widerfahren war.
Ich war gewillt, alles daranzusetzen, sein Vertrauen und seine Freundschaft zu erringen, um mich auf diese Weise durch Max von meinen Missbrauchserfahrungen zu befreien.
Als Gegenleistung würde ich ihn von seinen Missbrauchserfahrungen erlösen. Mit Frederic hatte ich eine falsche Freundschaft erlebt. Mit Max wollte ich wahre Freundschaft schließen. Ich wollte seine echte Freundin sein und es ernst mit ihm meinen.
Da er für Jahre im Gefängnis sitzen musste, würde es zwischen uns keine Sexualität geben, die unsere Freundschaft zerstören könnte.
Irgendwann hatte Frederic einmal zu mir gesagt, auch ein geweihter Mann Gottes habe Sexualität und dürfe Zärtlichkeiten empfangen und Freundschaften pflegen. Es sei ihm durch den Zölibat nur verboten, aus Zärtlichkeit Sex entstehen zu lassen. Deswegen sei Sex ein Fehler, der wegen zwei Minuten Beischlafs die Freundschaft zerstöre. Gott wisse das und verzeihe solche Fehler. Aber sie sollten nicht geschehen.
In meiner Freundschaft mit Max musste ich keine Befürchtungen haben, es könnte zu einem solchen Fehler kommen. Da war das Gefängnis vor. Folglich würde keiner von uns den anderen zu etwas drängen. Ich wusste, wie Priester sind. Ich kannte das von Frederic. Ich würde die Berührungsängste von Max Frauen gegenüber respektieren und ihm ganz behutsam die Angst davor nehmen.
Wenn ich geduldig genug wäre, würde er erkennen, dass er vor mir keine Angst haben musste und lernen, dass er mir seine Freundschaft, vielleicht sogar seine Liebe schenken durfte. Dann würde er sich nie mehr nur deshalb, weil er nicht wagte, eine Frau zu lieben, an einem Kind vergehen müssen.
Vielleicht brauchte er mich so sehr wie ich ihn, überlegte ich. Vielleicht könnte ich ihn retten und heilen. Ich würde es mir zur Aufgabe machen. Durch Max würde ich mein Leben nochmals zurückholen und von vorn anfangen.
Einen Menschen lieben heißt doch, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat. Irgendwo hatte ich das gelesen. Ich würde Max so sehen. Ich würde ihn als den Mann sehen, den Gott gemeint und den die Kirche mit ihrem Zölibatsgesetz kaputt und zum widerwärtigen Kindesmissbraucher gemacht hatte. Ich würde ihm die Kraft geben, nie wieder so einen schlimmen Fehler zu begehen.
Mit Max würde es endlich diesen echten Neuanfang einer wunderbaren Freundschaft geben, den Frederic und ich nie erreicht hatten. Es machte mich glücklich, so zu denken. Es tat mir gut.
Meine innere Stimme »Jetzt kann ich ihn haben!« schien mir wie eine Botschaft meines Schutzengels. Oder vielleicht war es auch sein Schutzengel. Es spielte keine Rolle. Was zählte, war, dass ich sie vernommen hatte.
Max zu finden war kein Kunststück. Seine Eltern hatten ihren Sohn oftmals bei uns im Pfarrhaus besucht, wo sie in einer Gästewohnung untergebracht worden waren. Da ich zu dieser Zeit bereits eine wichtigere Position in der kirchlichen Hierarchieordnung der Ministrantinnen hatte, war ich nach Frederics Verschwinden weiterhin oft ins Pfarrhaus gekommen. Es blieb nicht aus, dass ich dort Maxens Eltern traf und er sie mir vorstellte. Ich fand sie nichtssagend, aber ganz nett, und schrieb ihnen gelegentlich eine Ansichtskarte aus unserem schönen Schwarzwald. Daher hatte ich ihre Adresse.
Jetzt benutzte ich sie, um ihnen mein
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