Er war ein Mann Gottes
lag mein Ich in Trümmern. Manchmal gab es einen Mann in meinem Leben, mit dem ich mir vorstellen konnte, glücklich zu werden. Doch kaum war ich mit ihm zusammen, geriet ich wieder in diese — wie soll ich es bezeichnen? — diese »Zustände«.
Dann zum Beispiel, wenn seine Hand über meinen Körper strich und ich von einer Sekunde zur anderen innerlich eiskalt wurde. Alles, jedes Glied an mir zitterte dann nur noch, mein Herz schlug bis in den Kopf, dass ich meinte, es müsse meinen Schädel sprengen. Blankes Entsetzen breitete sich in mir aus. Ich konnte dann diese Hand nicht mehr ertragen, dieses Streicheln, Befingern. Ich konnte nicht mehr, gar nichts ging mehr, und ich hasste mich. Gott, wie sehr! Was war bloß mit mir los?
»Immer wieder dieses verdammte Durchdrehen!«, beschimpfte ich mich. Immer wieder dieses Weinen, dieses Wegstoßen des anderen, die Entschuldigungen und Beteuerungen, dass es nicht an ihm liege, dass er nichts dafür könne, nichts verkehrt gemacht habe, ganz toll sei. Der frustrierte Gesichtsausdruck meines Partners dann, dieses unecht wirkende Verständnis, dieses im Begehren enttäuschte Akzeptieren, diese mühsame Nachsicht mit mir als einer, die »irgendwie verkehrt« war. Jedes Mal hätte ich schreiend die Wände hochgehen mögen.
Würde ich jemals einen Mann lieben, ohne Frederics Gesicht vor Augen zu haben, ohne seine Hand durch die eines anderen zu spüren, ohne diesen Schmerz, diese Angst, diesen Ekel, diesen Hass auf mich?
Ein Wort für Franziska
Mein Halt, meine Zuflucht, mein Trost, all das war mir Franziska, meine beste Freundin aus Kindertagen, die als einziger Mensch von Anfang an wusste, was mir widerfahren war und dennoch an mich glaubte und zu mir stand. Ohne sie... — ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre.
Sie lebte mir vor, dass Freundschaft und Liebe wahrhaftig und selbstlos, ohne einen Gegenwert zu fordern gelebt werden können. Durch ihr Verhalten bewies sie mir, dass Vertrau-en und Treue wertvoll sind und auch ich mich darauf verlassen durfte. Vor allem aber zeigte sie mir, dass ich für sie Cora O. und ihre liebe Freundin blieb, obwohl »das« passiert war.
Weit mehr als meinem Therapeuten verdanke ich Franziska, dass ich gelernt habe, mit mir selber fertig zu werden und mich mit all dem anzunehmen, was mich zu dem machte, was ich bin. Meine Eltern könnten das nicht, dessen bin ich gewiss.
Max Dobel
Als ich mit einundzwanzig Jahren erfuhr, dass unser ehemaliger Kaplan Max Dobel in seiner neuen Pfarrei wegen sexuellen Missbrauchs an vier Jungen angezeigt und zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war, fühlte ich mich zur Salzsäule erstarren.
Max, doch nicht unser, mein Max!
»Doch, doch.« Meine Mutter kramte eine Zeitung hervor. Darin stand es schwarz auf weiß. Ohne Namen zwar, nur mit Initialen. Doch es war sein Pfarr-Ort, und auf dem Foto neben dem Text, auf dem er in Handschellen abgeführt wurde, erkannte ich zweifelsfrei sein Gesicht, trotz des breiten Balkens über den Augen.
Das war es also, was er mit den Jungen hatte, mit denen er so gern ins Schwimmbad gegangen war. »Mein Gott!« Fassungslos sank ich auf die Eckbank in der Küche und konnte den Blick nicht von diesem Foto abwenden. Und während ich es anstarrte und das Zeitungsblatt in meiner Hand zitterte, dachte etwas in mir: »Jetzt kann ich ihn haben.«
»Jetzt kann ich ihn haben?« Nachts im Bett geisterte mir der Satz durch den Kopf. »Was sollte das denn heißen? Ich spinne doch wohl total!«
Max in Handschellen zu sehen entsprach dem Bild, das ich mir als Vergeltung für Frederic erträumt hatte, und löste dadurch in meiner kranken Seele wohl eine Übertragung aus.
Folglich verstrickte ich mich schon in diesem ersten Moment in Gefühle für Max, die ihre Wurzeln bei Frederic hatten. Irgendwie wollte ich mit Max fortführen, was ich mit Frederic begonnen hatte.
Für mich war Max durch seine Straftat von seinem himmlischen Thron als gottgeweihter Übermensch gestürzt und zu einem ganz normalen Mann geworden. Frei vom Zölibat und demnächst auch frei von der Tat, für die er im Gefängnis büßte, schien er frei für einen Neuanfang und somit frei für mich.
Da ich nicht ahnte, dass ich seelisch krank war, konnte ich diesen aus dem Unterbewusstsein entspringenden Übertragungsvorgang ohne professionelle Hilfe nicht erkennen. Ich versuchte nur, durch wahre Freundschaft mit Max den Albtraum meiner Freundschaft mit Frederic zu ersetzen, und schlitterte ungebremst in
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