Er war ein Mann Gottes
Erfrischungsgetränke vom Automaten gehörten für ihn zum Haftaufenthalt wie selbstverständlich dazu. An Geld mangelte es ihm nie. Hinzu kamen Geschenkpakete seiner Familie und von mir, so dass er von der Stereoanlage bis zu Büchern seiner Wahl bestens ausgestattet war. »Das sind so die Freiheiten, die ich mir hier gönnen kann«, meinte er.
Ein ganz wesentlicher Vorteil war auch die Verfügbarkeit von psychologischem Fachpersonal. Ob Haftlockerungen oder vorzeitige Entlassung, von einer günstigen Prognose dieses Personals hing für Max alles ab. Daher suchte er seine Ansprechpartner gezielt aus.
Ein Gefängnispsychologe, ein Gefängnisseelsorger, eine therapeutische Gesprächsgruppe mit anderen Häftlingen, der Stationsarzt, ein weiterer Psychologe außerhalb des Gefängnisses und zuletzt ein professioneller Gefangenenbegleiter, der Max für seine regelmäßigen Ausgehtermine zugeteilt worden war. Sie alle wirkten daran mit, Max zu resozialisieren.
Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, zunächst Begleitausgang zu erzielen, der einige Zeit später zum Alleinausgang und danach zum Hafturlaub übers Wochenende ausgeweitet wurde, das er mit seinen Eltern und Freunden verbringen durfte. Einige Zeit später kam es zur Einweisung in ein Freigängerheim mit angenehmem Freizeitangebot sowie zu einer Erwerbstätigkeit außerhalb der Haftanstalt. Kurz darauf endete die Haftzeit mit einer vorzeitigen Entlassung.
Anstatt über die kalte Berechnung zu erschrecken, mit der Max jeden benutzte, um sich Vorteile zu verschaffen, und anstatt daraus Rückschlüsse auf die Beziehung zwischen Max und mir zu ziehen, bedauerte ich ihn. Es tat mir leid, dass ihm an manchen Tagen trotz aller gewährten Haftlockerungen die Decke auf den Kopf fiel.
Es sei ihm zu laut und zu schrill, klagte er dann. Seine Zellengenossen seien Rüpel, entsetzliche Kerle. Rückzugsmöglichkeiten fehlten. Bei dem Lärm und Fernsehkonsum ringsum könne er ohne Kopfhörer und laute Musik keinen klaren Gedanken fassen. Einmal sei es direkt vor seiner Tür zu einer Messerstecherei gekommen, ein andermal sei ein Häftling fast totgeprügelt worden. Den Wärtern sei das eigene Hemd näher als die Haut der Häftlinge. Sie ließen sich Zeit, bis sie eingreifen würden.
»Ich weiß nicht, wie ich das hier überstehe«, schrieb Max. »Ich muss hier so schnell wie möglich raus. Wenn ich erst eine Wohnung draußen habe, geht alles besser voran. Schade, dass du zu weit weg wohnst. Ich bekomme jedoch ein Zimmer bei meiner Bezugsperson. Aber genug davon. Ich darf nicht so viel verraten. Wenn meine Pläne zu früh bekannt werden, kann alles schief gehen.«
Es ging nichts schief.
Täterschutz
Ich weiß nicht, wie es kam, dass ich Max nicht als bösen, schändlichen Kindesmissbraucher ansah, sondern mich nur an den jungen, engagierten Kaplan erinnerte, der mir zur Seite gestanden hatte, als ich zum Missbrauchsopfer seines Pfarrerkollegen geworden war. Es war selbstverständlich für mich, dass jetzt ich ihm zur Seite stehen und ihn nicht im Stich lassen würde.
Dass er seiner gerechten Strafe zugeführt worden war, wusste ich. Es stand aber nicht im Focus meiner Empfindungen. Ich hatte mich in Max verliebt. Es tat mir weh, dass er litt. Ich fühlte mit ihm und bedauerte den armen Mann Gottes von Herzen. Jede Haftvergünstigung, die er für sich herausschlagen konnte, erleichterte sein Leben. Ich freute mich darüber, weil ich glaubte, dass Max sich geändert habe und mich ebenfalls liebte. Ich wollte mich nicht damit auseinandersetzen, dass die Ansprüche und Forderungen, die Max erfolgreich für sich als Täter stellte, Fragen nach einem gleichwertigen Opferschutz aufwerfen.
Wer von beiden Tätern hatte mir und den anderen Kindern zum Beispiel die faire, menschliche Behandlung geboten, die Max in der Haft für sich einforderte? Es war nicht fair, mir und anderen Kindern Freundschaft vorzugaukeln, um Sex zu erschleichen. Oder war es etwa menschlich wertvoll, unsere Unschuld und kindliche Verehrung durch verbotene sexuelle Handlungen zu verraten?
Max beklagte sich, wie demütigend und erniedrigend es sei, die Toilette in der Gefängniszelle zeitweilig hinter einem Paravent statt einer Tür benutzen zu müssen. Was er mit den Kindern gemacht hatte, die er sexuell missbrauchte, verriet er mir nie. Dennoch bin ich sicher, dass sie ihr Leben lang mit Schrecken an diese Demütigung und Erniedrigung denken und vielleicht nie mehr zu einer unbelasteten Liebesbeziehung fähig
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