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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
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einlullende Art suggerieren wollte, dass ich meinen Leib und damit meine Identität als Frau anzunehmen und mich daher auf die Einnistung einer Eizelle einzustimmen habe.
    Zu diesem Zweck führt er singsangend aus, wie ich vorzugehen hätte, um meine Fruchtbarkeit in ihrer Gesamtheit zu erwecken. Geradezu flehentlich bittend legt er mir nahe, auf meine Eizelle einzuwirken, damit sie reifen und bereit werden wollen möge, ihre feinstoffliche und grobstoffliche sowie ihre geistige Aufgabe im Kleinen wie im Großen zu erfüllen. Alsdann solle ich meine reife Eizelle bitten, in ihrer feinstofflichen und grobstofflichen, fein- und grobgeistigen, wahren Materie millimetergenau auf dem von meinem Therapeuten beschriebenen Weg in meine Gebärmutter zu fallen, sich dort einzunisten und alsbald teilen zu lassen.
    Auf dem Weg zur Erweckung meiner Fruchtbarkeit müsse ich notwendigerweise alle meine äußeren und inneren Grob- und Feinstofflichkeiten wie Organe und Muskelfasern an bestimmten Knochenstrukturen aufsuchen und um ihre Mithilfe bitten. Besondere Reiseziele in der inneren und äußeren Wirklichkeit meiner Gesamtheit sollten die einzelnen Blutsauerstoff tragenden und abgebenden Blutstropfen sein sowie meine von der Gesamtstofflichkeit meiner Mutter und der Gesamtstofflichkeit meines Vater stammenden Gene. Ganz wichtig sei schließlich die Aktivierung der Feuchtigkeit regulierenden Zellen meiner Scheideninnen- und Scheidenaußenwand, meiner Eierstöcke links und meiner Eierstöcke rechts, jeder einzelnen befruchtungsreifen Eizelle links und jeder einzelnen befruchtungsreifen Eizelle rechts und was es sonst noch als Körperbausteine geben mag.
    Wäre es möglich, einem Buch eine Tonspur beizugeben, würde ich Sie, liebe Leserin und lieber Leser, gern am Genuss dieser phantastischen Reise in die Körperwelten teilhaben lassen.

    Während meiner Therapie hat die innere und äußere Stofflichkeit meiner Ohrmuscheln in ihrer Gesamtheit der feinstofflichen Zellen des Trommelfells wohl aber kein ausreichendes Tremolo im Inneren meiner Eizellen erzeugt. Eine Einnistung der Eizelle fand nicht statt. Vermutlich sah sie keinen Sinn darin, da ich zu diesem Zeitpunkt weder jemanden hatte, dessen Geliebte ich werden wollte, noch den Wunsch nach einem Kind verspürte.
    Anscheinend ging meinem Therapeuten weder stofflich noch geistig auf, dass ich zu ihm kam, weil ich inmitten meiner Mitstudenten so bitter einsam war, dass ich mir Zeit und Aufmerksamkeit von einem wildfremden Menschen kaufen musste, um wenigstens manchmal die Illusion zu haben, es gäbe jemanden, der für mich da sei.

Gedankengift

    Die Therapiestunden hatten mir nicht geholfen, meine Erfahrungen mit Frederic zu bewältigen. Meine Eltern durften es nicht wissen. Auch mit anderen Menschen konnte ich nicht darüber reden. Mein Tagebuch antwortete nicht auf meine Fragen. Aber ich brauchte Antworten.
    Ich fand sie in Büchern. Zu erfahren, dass Kinder nicht die aktive Rolle haben und die Täter verführen, sondern passive Opfer sind, die von ihren Peinigern verführt werden, war eine Erlösung.

    Doch das Gedankengift, das Frederic meiner Seele zugeführt hatte, ließ mich keinen klaren Gedanken fassen. Wenn ich zu verstehen versuche, warum alles geschah, höre ich seine Stimme, und es stellt sich seine Wahrheit neben meine Wahrheit.
    »Hatte er nicht recht?«, fragt es dann in mir. »Kam ich nicht immer freiwillig zu ihm? Wollte nicht ich, dass er mein Freund sei?«
    »Ja«, sage ich, »und abermals ja. Aber den Sex, das ist gewiss, den wollte ich nicht. Den wollte er. Nur er.«
    »Und ich?«, fragt es weiter. »Warum floh ich nicht? Warum zeigte ich ihn nicht an? Warum kam ich wieder? Trotz alledem immer wieder?«
    »Weil ich ihn aus vollstem Herzen verehrte«, antworte ich mir selbst. »Weil ich nicht den geringsten Zweifel an seiner erhabenen Richtigkeit hatte. Weil ich spürte, dass er mich brauchte. Weil ich ihn glücklich machen wollte. Weil er ein Mann Gottes war und auch die heilige Mutter Maria sich Gott hingab, ohne ihn sexuell zu begehren.«
    Ich erschrecke vor mir, weil ich einen Vergleich zur Mutter Gottes wage. Ich stelle mich nicht mit ihr auf eine Stufe. Nein! Aber es sind seine Worte. So erklärte er mir den Unsinn des Zölibats. Nicht einmal Gott hätte keusch gelebt, sondern eine Frau geliebt und ein Kind mit ihr gezeugt.
    Als Kind hatte ich nicht verstanden, was Frederic meinte. Ich tat, was er von mir wünschte. Fraglos. Widerstandslos. Und ich tat

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