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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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wusste es auch nicht. Es war ihm plötzlich auch vollkommen egal. Nach der Nacht ohne Schlaf war er so müde, dass er seinen Kopf sogar in den Schoß der Araberin gelegt hätte.
    Es ging hier um etwas anderes.
    Seans Lippen bewegten sich.
    Angus schaute sich die Bewegungen an.
    Es ging um etwas vollkommen anderes.
    »Was?«, fragte er.
    »Ich sagte, dass ich mit Ross gesprochen habe, vor einer Stunde. Alasdair lebt noch.«
    »Er lebt noch zwei Wochen«, sagte Angus. Die Wurst war es. Sie lag in seinem Magen und machte ihn müde. Drei durchsichtige kleine Punkte versammelten sich vor seinen Augen, um zu tanzen.
    »Ross sagt, dass es keine zehn Tage mehr dauert. Duncan hat’s ihm gesagt.«
    »Duncan wer?«
    »MacLeod. Der Arzt. Alasdairs Arzt. Das weißt du doch. Alasdair ist in zehn Tagen tot. Und so lange warten wir hier.«
    »Gestern waren’s noch zwei Wochen.« Ein Laster pustete Pressluft aus, schnaubte im Vorbeirasen wie ein Elefant, der den letzten Zug zur Tränke erwischen will. Angus spürte die Erschütterungen durch die Fußsohlen. Dreißigtonner, mindestens, dachte er. Auf Lewis hätte ein solcher Laster die Straße weggedrückt. Auf Lewis war fester Grund rar.
    Das ist es, dachte Angus.
    Sein Gefühl, dass die Erde zu dünn war, dass sie ihn nicht trug.
    »Verstehst du?«, sagte Sean. Er legte die Hand auf Angus’ Arm. Berührungen waren nicht üblich, Angus schaute die Hand an wie eine Wespe. »Alasdair soll in Frieden sterben. Deswegen sind wir hier. Er denkt jetzt, dass wir alles unternehmen, um seiner Tochter die Sache mit dem Foto auszureden. Und kurz bevor er stirbt, werde ich ihn anrufen. Ross wird mir sagen, wann es so weit ist. Ich werde Alasdair erzählen, dass seine Tochter ihm verziehen hat. Dass sie ihn liebt. Und dass sie uns versprochen hat, das Foto zu vernichten und dem Guga Cull niemals zu schaden. Dann kann er sich hinlegen und in Frieden sterben. Das ist der Plan. Du kannst mit ihr sprechen, natürlich, ganz wie du willst. Aber wenn du keinen Erfolg hast, darf Alasdair das nicht erfahren. Das bleibt dann unter uns. Das hat der Alte verdient.«
    Angus hörte das Krachen der Zimmertür, die unter der Wucht von Alasdairs Tritt entzweibrach. Du Dreckskerl wirst sie heiraten! Der Alte hatte überhaupt nichts verdient.
    »Mir geht’s um mich«, sagte Angus, seine Knochen waren mit Müdigkeit vollgestopft. Müdigkeit bestand aus Sand und Blei und dem Wunsch, beides loszuwerden. »Wenn sie kommt, geh ich rüber.«
    Die Mauser schob sich in den Vordergrund, er sah den Widerschein der Sonne auf dem Lauf. Er erinnerte sich an den unsagbaren Schmerz, als das Pulver der Platzpatrone ihm die Mundschleimhaut zerfetzte. Die Mauser war von einem Wettrennen her noch mit Platzpatronen geladen gewesen, das hatte er damals vergessen gehabt. Ein kleines Loch im Gedächtnis war der Grund dafür, dass er heute noch lebte. Drei Monate hatte er kein Wort sprechen können, damals, Zunge, Lippen, alles verquollen, vereitert, zerrissen. Er war dem Leben nicht einmal eine richtige Kugel wert gewesen, nur ein bisschen glühendes Pulver. Sean redete, die Worte zerbröselten, bevor sie Angus erreichten, sie kamen ihm vor wie Staubwolken. So musste es sein im letzten Moment: das Erlebnis der Unerreichbarkeit. Zu merken, wie die Dinge, die an einen herankommen wollten, es nicht mehr schafften, weil sie zu langsam waren für den Tod. Man wurde, wenn man starb, einfach immer schneller. Nichts konnte da mithalten, und deswegen war plötzlich alles weg, auch man selbst, denn man war auch schneller als man selbst.
    »So ist das«, sagte Angus.
    »Was?«, fragte Sean.
    »Nichts.« Es war ja auch Quatsch. Was wusste er schon über den Tod. Über den Tod konnte man alles sagen, es konnte ja keiner nachzählen. Über Sex kann man nicht reden, hatte er einmal in einer Zeitschrift gelesen. Und so war es mit dem Tod auch. Man musste es tun. Wenn man’s hätte rückgängig machen können, hätten sich die meisten Leute ein- oder zweimal im Jahr umgebracht. Es kostete nur deshalb so viel Überwindung, weil man sich schon sehr sicher sein musste, das Richtige zu tun.
    Sean legte ein Buch aufs Stehtischchen, leckte sich den Finger und blätterte damit eine Seite um.
    »Hol uns besser noch ein Bier«, sagte Angus.
    »Ja«, sagte Sean, unternahm aber nichts.
    In diesem Moment starben auf der Welt Tausende von Leuten. Hunderttausende, vielleicht sogar eine Million. Sie starben, und da draußen fuhren die Laster hin und her, die

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