Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Er

Er

Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
erst einen Sinn. Angus konnte jetzt die richtigen Schlüsse ziehen. Er wusste genau, was zu tun war. Er war ein krankes Schaf in der Herde. Solchen Schafen setzte man den Bolzen zwischen die Ohren. Es war keine Strafe, es war nur notwendig, und man drückte den Abzug nicht aus Spaß, sondern aus Mitleid. Man schaffte das tote Schaf weg, und die Herde konnte aufatmen.
    Angus dachte an die Lastwagen auf der Straße vor Leas Haus, wie sie nach der Ampel beschleunigten, drei Gänge hochschalteten, und auf der Höhe von Leas Haustür gerieten sie richtig in Fahrt. Sie waren wie Brandung, nichts konnte sie stoppen. Ein Mensch schon gar nicht, das bisschen Fleisch und Knochen taugte gerade mal zum Fliegen. Ein Knall, und man flog wie eine aus einer Kanone geschossene Strohpuppe durch die Luft, die Kinder blieben stehen und schauten in den Himmel, Mama, guck mal, ein Mensch! Man war so sicher tot wie nach einem Sturz von den Klippen von Sula Sgeir. Wenn man zwischen Mülltonnen landete, sah man sich schon von oben, winkte noch einmal und ging dann ins Licht.
    Und falls da kein Licht war, gab es eben nichts, nur Dunkelheit. Werde mich ganz wie zu Hause fühlen, dachte Angus.
    In der Toilette wurde es still, und die Stille stank.
    »Schließ mal die Tür!«, rief Angus, und Sean schloss sie.
    Ein Unfall, noch dazu, wenn ein Lastwagen im Spiel war, wurde auf Lewis geachtet. Es war ein männlicher Tod. Alison brauchte sich nicht zu schämen, sein Bruder auch nicht, niemand. Alle würden sagen: Und dann hat dieser Dreißigtonner ihn erledigt. Es klang nach einem verlorenen Kampf, anders, als wenn man sich aufhängt oder Schlafpillen schluckt oder sich eine Kugel in den Mund schießt. Das klang nach Feigheit. Alison hätte ihm nur zu gern Schmähungen ins Grab gespuckt, aber diesen Gefallen wollte er ihr nicht tun. Bei einem Unfall mit Lastwagen musste sie mit zusammengebissenen Zähnen das schwarze Kleid tragen, das ständige »Der arme Angus!« würde ihr im Hals stecken bleiben, Angus lächelte auf seinem Kissen. Wie sich jetzt alles in milde Farben auflöste! Ihm tat nur der Lastwagenfahrer leid, der die Probleme fremder Leute löste und zum Dank selbst eins an den Hals bekam. Und ihm tat leid, dass er Alison nicht mochte. Er hatte ihr mal einen Zweig Heidekraut ins Haar gesteckt, ganz früher, am Anfang der Welt. Als die Planeten noch flüssig waren, dachte Angus. Das sagten sie im Fernsehen, und sie hatten recht: Am Anfang war alles flüssig, geschmeidig, es war, als würde man zu zweit in einem Bach liegen. Die Lust, Alison zu berühren, ihr etwas Gutes zu tun, die Freude, sie lachen zu hören, dass er das alles verloren hatte, bereute er tief. Er hätte es gern ihr allein übel genommen, aber in diesem Orchester, dachte er, spielst du auch mit.
    Eine Weile dachte er gar nichts. Dann kam ihm in den Sinn, dass der Fahrer des Lastwagens auch die Sache mit dem Foto aus der Welt schaffen würde.
    Ja klar! Angus konnte vor Aufregung nicht liegen bleiben, er stand auf und tigerte im Zimmer herum. Sean ließ wieder von sich hören, wahrscheinlich kamen jetzt die Bockwürste von gestern dran. Natürlich! Das Foto! Lea war ein anständiger Mensch. Wenn Angus vor ihrer Haustür überfahren wurde, löschte sie das Foto, sie zerriss es, verbrannte es, was auch immer. Jedenfalls würden es die Umweltspinner von ihr nicht kriegen, denn sie hatte ihn geliebt. Sie hatte ihn gezeichnet. Sie hätte es mit ihm getan, wenn er nicht eine Schnecke in der Hose gehabt hätte. Den Umweltspinnern lief das Wasser im Mund zusammen, aber Lea sagte: Vergesst es! Ich habe diesen Mann geliebt, und jetzt ist er tot, und ich werde sein Andenken nicht schänden. Angus stellte sich dreimal vor, wie Lea das sagte, es gefiel ihm von Mal zu Mal besser. Und sie wusste ja nicht, was auf Sula Sgeir wirklich geschehen war, sie dachte, ihr Vater sei schuld, sie schob alles auf ihn. Natürlich, sie liebte Angus jetzt nicht mehr, das hatte sie ihm auf Sula Sgeir ja mit einem langen Messer in die Haut geritzt. Aber um der alten Zeiten willen, dachte er, wird sie mich schützen. Lea würde nie ein Foto rausrücken, das einen Toten entwürdigt, mit dem sie es tun wollte.
    Angus setzte sich auf die Bettkante. Er konnte sein Glück nicht fassen. Sein Tod löste so viele Probleme, dass es dumm gewesen wäre, sich nicht umzubringen. Er hatte nicht genug Finger, um die Vorteile alle aufzuzählen. Wenn er tot war, konnte der alte Alasdair ruhig sterben, weil es das Foto nicht

Weitere Kostenlose Bücher