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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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mehr gab. Alison schnappte sich einen neuen Mann und kriegte vielleicht doch noch ein Kind, und Angus blieb der Anblick des hässlichen Balgs erspart, weil er schön tot in der feuchten Erde von Port Nis lag und Gott einen guten Mann sein ließ. Lea würde weinen. Angus stellte sich vor, wie sie am Fenster stand, der Himmel war voller pummeliger, grauer Wolken, auf dem Fensterbrett stand ein Blumentöpfchen, und eine von Leas Tränen brachte eins der Blättchen zum Zittern. Angus dachte, dass das, was er sich da vorstellte, im Fernsehen hätte gezeigt werden können. Vielleicht hatte er es im Fernsehen schon mal gesehen. Er war müde, Sean auf der Toilette hustete, spülte, und Angus legte sich wieder ins Bett. Die Erdenschwere fiel von ihm ab. Er spürte, wie die Engel ihre Hände unter seinen Rücken schoben und ihn bereits ein wenig hochhoben. Er sah den Körper fallen, und von unten, mit der Gischt, stieg die Schuld herauf wie eine bleierne Wolke. Die Schuld war schwer, und deshalb suchte sie sich einen Platz in einem selbst, denn andernfalls hätte man leicht von ihr wegrennen können. Um ihr zu entkommen, war etwas nötig, das schwerer war als sie selbst. Ein Dreißigtonner.
    Angus öffnete den Mund. Seiner Großmutter hatte der Leichenbestatter den Kiefer mit einer Mullbinde zugebunden. Als die anderen weg waren, berührte Angus die Binde. Sie saß so straff, dass man den Finger nicht unter sie kriegte. Er konnte von der Binde gar nicht loskommen, ständig strich er darüber, schaute sie an, roch daran. Sie kam ihm vor wie eine Sprache, die er nicht verstand, in der aber etwas Wichtiges gesagt wurde.
    Angus schloss den Mund. Er öffnete ihn wieder. Schloss ihn. Mehr fiel ihm zum Unterschied zwischen Tod und Leben nicht mehr ein.
    Und er empfand etwas, das er noch nie empfunden hatte.
    Vielleicht war er glücklich.
    Es war ein schönes Gefühl. Aber er ließ sich davon nicht umstimmen.

[Menü]
    17
    »D U BIST ROT«, flüsterte Toni. »Wie eine Tomate.«
    »Das kannst du gar nicht sehen«, sagte Jensen. »Es ist zu dunkel.«
    »Und du blätterst die Fotobücher durch. Und du riechst nach Wein. Das ist eklig. Bist du besoffen? Siehst du mich doppelt?« Toni bewegte sich vor dem Schreibtisch hin und her.
    »Wenn du mich doppelt siehst, hast du mich jetzt vierfach gesehen, nicht? Weil ich mich bewege. Stimmt’s?« Sie bewegte sich schneller hin und her. »Und jetzt wird dir schwindlig. Also gib’s zu. Du suchst Mamas Zeichnungen. Da kann ich nur sagen: lauwarm. Sehr lauwarm.«
    Sie trug eine Brille mit rosarotem Gestell.
    »Du solltest um diese Zeit schlafen«, sagte Jensen.
    »Ja, klar. Damit du die Zeichnungen suchen kannst, ohne dass es jemand merkt. Aber keine Angst. Ich halte zu dir. Du findest mich doch nett, oder? Hast du heute gesagt.«
    »Ja, und ich bleibe dabei.«
    »Sagst du es, weil du Angst hast, dass ich es Mama sage?«
    So war es.
    »Nein«, sagte er. »Ich sage es, weil es so ist.« Es stimmte ja auch, sie war auf ihre Weise nett. Nett war das falsche Wort. Sie war interessant. Aber das hätte ihr nicht geschmeichelt. Und Franks Schicksal war Jensen eine Warnung.
    Sie hat meine Kleider ins Treppenhaus geschmissen, meine Schuhe, den Mantel.
    Franks Worte in Venedig.
    »Du bist nett«, sagte Jensen.
    »Warum?« Toni stützte ihre Hände auf den Schreibtisch, eines der Bücher fiel vom Stapel, der Lärm war gering. Beide blickten zu Leas Schlafzimmertür und schwiegen eine Weile.
    »Also«, flüsterte Toni. »Warum findest du mich nett?«
    »Weil du interessant bist. Du bist sehr klug. Du bist etwas Besonderes.«
    Toni atmete das Wort tief ein.
    »O ja«, sagte sie. »Ich bin etwas Besonderes. Ich sag dir jetzt mal was: Ich bin farbenblind.«
    »Toll«, sagte Jensen. »Bei einem Mädchen, meine ich. Toll im Sinne von selten. Bei Mädchen ist Farbenblindheit nämlich sehr selten.«
    »Bei mir aber nicht. In der Grundschule hab ich mal einen Baum gemalt mit grünem Stamm und braunen Blättern. Die Röpke, diese blöde Kuh, hat die Zeichnung in der ganzen Klasse rumgereicht. Seht mal, was die Toni Dummes gezeichnet hat!«
    »Dieses Wort solltest du nicht sagen.«
    »Mama hat mir erlaubt, die Röpke blöde Kuh zu nennen. Sie nennt sie selbst so. Sie ist auch eine. Also, ich bin farbenblind, okay? Ich sehe grün und braun nicht richtig, und ich kann violett nicht von blau unterscheiden. Ich gucke mir also keine Bilder an, okay? Gemälde von Malern und so. Das gucke ich mir nicht an. Ich krieg’s

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