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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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nämlich nicht mehr aus dem Kopf, wenn ich’s einmal gesehen habe. Wegen meinem fotografischen Gedächtnis. Das hab ich auch. Ich bin schon was Besonderes, du hast recht. Und jetzt überleg mal. Denk mal nach. Wo könnten die Zeichnungen sein?«
    »Keine Ahnung. Ich bin jetzt auch müde. Ich gehe wieder ins Bett. Und du solltest das auch tun.«
    »Nur so zum Spaß. Überleg mal. Mama zeichnet, und sie will nicht, dass ich die Zeichnungen sehe. Niemand darf sie sehen. Ich finde, sie macht sich damit ein bisschen wichtig. Aber egal. Sie muss immer arbeiten. Und dann das Kind.« Toni verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Also, so ein Kind, da hat man eine Menge zu tun«, sagte sie mit verstellter Stimme. »Dauernd muss man was verbieten. Da wird man ja wohl abends mal was zeichnen dürfen. Guck mal, die Prachtschmerle stirbt.«
    Toni ging zum Aquarium. »Siehst du? Sie liegt auf dem Rücken. Das ist bei einem Fisch ein Alarmzeichen. Also jedenfalls finde ich Zeichnen ätzend. Aber Verstecke finde ich toll. Ich hab selber welche, hier in der Wohnung. Für meine Gummibärchen. Ich darf ja keine, Mama sagt, Gummibärchen seien gefärbtes Gift. Oje!« Toni drückte sich die Hand auf den Mund. »Jetzt kennst du mein Geheimnis. Wirst du’s Mama erzählen? Bitte nicht! Ich sag dir auch, wo sie die Zeichnungen versteckt. Hier sind sie. Ich zeig’s dir. Aber du darfst ihr nichts von den Gummibärchen erzählen. Versprich es mir!«
    Toni kniete sich vor dem Stapel mit den Fotobänden hin und zog den untersten Band heraus.
    »Ich will’s gar nicht wissen«, sagte Jensen. »Geh jetzt ins Bett.«
    »Da! Da sind sie drin!« Sie legte das Buch auf den Schreibtisch. »Jetzt musst du dein Versprechen halten! Okay! Schwör es!«
    Es war ein Band über Piet Mondrian.
    »Warum willst du, dass ich mir die Zeichnungen ansehe? Das willst du doch, nicht wahr?«
    »Na ja«, sagte Toni. »Da ist doch bestimmt ein Fluch drauf. Jeder, der sich die Zeichnungen anschaut, stirbt. Hossam war doch halber Ägypter, der hat Mama das beigebracht. Wenn du dir die Zeichnungen anschaust, geht’s dir morgen nicht mehr so gut, und übermorgen … da möchte ich gar nicht dran denken.«
    »Toni, du bist nicht nur nett, du bist auch sehr liebenswürdig.«
    »Ich will ja nicht, dass du stirbst. Nur dein blöder Hund. Er macht mir Angst. Dauernd guckt er mich an. So.« Sie formte die Finger vor den Augen zu Kreisen. »Mit solchen Glubschaugen. Ich wette, er ist ein verzauberter Vampir.« Sie kicherte. »Verzauberter Vampir. Findest du das nicht lustig? Mama sagt, du lachst manchmal über deine eigenen Witze viel zu lange.«
    »Ach? Sagt sie das?«
    »Ich könnte dir noch ein paar andere Dinge verraten, die sie über dich sagt. Aber jetzt holen wir erst mal den verzauberten Vampir. Du musst einfach deine Hand auf seinen Kopf legen. Und dann schaust du dir die Zeichnungen an. Der Fluch überträgt sich dann auf den Hund, okay? Dir passiert überhaupt nichts. Und ich schau mir die Zeichnungen sowieso nicht an, ich bin ja nicht blöd. Ich hol jetzt den Hund. Morituri te salutant.« Sie schrieb in Latein Einsen. Jensen war froh, dass sie nicht sein Kind war.
    »Lass den Hund schlafen«, sagte er. »Und am besten gehst du jetzt auch ins Bett. Morgen ist Schule.«
    »Ach so!« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Du denkst, dass ich Unsinn erzähle. Na, dann wart mal ab. Im Mittelalter haben sie Krankheiten auf Katzen übertragen, zum Beispiel Herzinfarkte. Uah, uah!« Sie ahmte den Herzinfarkt einer Katze nach. »Die hatten keine Ärzte damals, aber Katzen gab’s genug. Mit Hunden funktioniert es sogar noch besser. Hunde sind größer als Katzen, da passen mehr Krankheiten rein, Flüche, was du willst.«
    Jensen legte den Mondrian-Band zurück unter den Stapel und sagte, dass er sich die Zeichnungen nicht anschauen werde.
    »Deine Mutter will es nicht. Also werde ich es nicht tun. Und eines Tages wirst du den Hund mögen, glaub mir. Lassen wir ihn lieber noch ein bisschen leben.«
    »Du bist langweilig«, sagte Toni.
    Er begleitete sie zu ihrem Zimmer.
    Dann stieg er in die Männerkammer hoch und wartete.
    Um vier Uhr früh erwachte er. Er war im Sitzen eingeschlafen, aber noch war es nicht zu spät. Die Stufen der Wandtreppe knackten, als er runterstieg. Die Türklinke quietschte, auch die Dielen im Flur gaben ihren Senf dazu. Die Prachtschmerle lebte wieder, sie schwamm aufrecht und wedelte mit den Fähnchen an ihrer Seite.
    Jensen hob den Mondrian-Band

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