Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Er

Er

Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
im Fernsehen von Lewis sprach, als sei’s der Urwald. Da laufen die Leute mit Gugaknochen in den Nasen rum und spießen Vogelköpfe auf Zahnstocher, und Tierquälerei ist so ziemlich das Einzige, wozu sie taugen. »Tradition ist kein Freibrief für Tiermord«, sagte die Branson, und dann sagte sie, dass sie keine Hühnereier isst, weil daraus ein Huhn entstehen könnte.
    »Wir müssen was tun«, sagte Angus. Sein Ölanzug war leck, irgendwo am Rücken trat Wasser ein, die feuchte Stelle wurde kälter.
    »Tun wir ja!«, rief Ross.
    Eine plötzliche Müdigkeit machte Angus weich. Er musste die Beine hinlegen. Er setzte sich aufs Deck, sein Hintern schwankte mit dem Kutter.
    »Keine Sorge, mir geht’s gut«, sagte er. Er legte sich hin.
    Du kommst bald in einem Buch vor, Angus.
    »Ja«, sagte er. Er schloss die Augen. Wenn Lea nur halb so gut fotografierte wie sie zeichnete, würde Kate Branson sich das Buch jeden Abend vor dem Schlafengehen an die Stirn schlagen.
    »Versteht ihr?«, sagte Alasdair. »Ich will nicht der letzte Anführer des Culls sein. Ich will, dass auch noch eure Urenkel und die nach ihnen nach Sula Sgeir fahren. Wenn sie in der Zeitung Fotografien von zerquetschten Gugas zeigen, zeigen wir ihnen Fotografien, auf denen man sieht, wie es beim Cull wirklich zugeht. Nämlich mit rechten Dingen. Dass da kein Guga unnötig leidet. Dass wir die Gesetze unserer Vorväter beachten. Sie sollen sehen, dass wir beten, bevor wir die Gugas aus den Nestern holen. Dass wir anständige Männer sind, die nichts anderes wollen als nach Sitte und Tradition zu leben. Liam Haig aus Glasgow ist ein alter Freund von mir. Er arbeitet bei den Glasgow News. Ist das einzige Blatt auf dem Festland, das überhaupt was taugt. Er wird das Buch schreiben. Und meine …« Alasdair fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, damit das fremd gewordene Wort besser flutschte. »… meine Tochter macht die Fotografien. Ist hier einer dagegen? Dann ist es besser, wenn er’s jetzt sagt.«
    Man hörte im Pub den Bierhahn tropfen.
    »Nein«, sagte Angus. Er lag unter dem Regen, Gischt wölbte sich über ihn hinweg. Die verzurrten Proviantkisten knarrten, und Ross war weg. Eine Welle schlug gegen den Kutter, die Erschütterung brach Angus in der Mitte entzwei. Er schrie auf vor Überraschung. Sein Rücken war zerbrochen. Wie ein Streichholz, das man zerknickte. Aus der Bruchstelle sickerte etwas Warmes, Angus akzeptierte das. Es wäre ja merkwürdig gewesen, wenn bei einem so schweren Schaden nicht was rausgekommen wäre. Wo blieb der Schmerz? Da war nur Nässe. Kommt vielleicht später, dachte Angus.
    Unter seinem Ölanzug rannen Bäche aus unbestimmter Quelle. Sie drohten die Zeichnung zu erreichen, die Angus vor der Abreise in die Brusttasche gesteckt hatte. Er tastete danach, das Papier war noch trocken.
    Seit er wusste, dass Lea mit auf den Cull kam, stellte er sich abends vor dem Einschlafen vor, wie er ihr auf Sula Sgeir die Zeichnung schenkte.
    »Sie gehört dir. Hab sie die ganze Zeit über aufbewahrt. Ich möchte sie dir zurückgeben. Einfach so.«
    Er korrigierte den Text laufend.
    Nicht »einfach so«. Sondern: »Damit du weißt, dass ich dich nicht vergessen habe.«
    Sie würde antworten: »Das weiß ich doch auch, wenn du sie behältst.«
    Er würde sagen: »Ja. Aber wenn du sie hast, denkst du an mich.«
    Sie würde sagen: »Warum sollte ich an dich denken, Angus Morrison? Ich denke an den Vater des Kindes, das ich mir habe absaugen lassen.«
    Das würde sie bestimmt nicht so ausdrücken.
    Der Motor des Kutters tuckerte wieder. Das gemütliche Geräusch besänftigte den Sturm, es war Zeit für ein Nickerchen.
    Nur fünf Minuten, dachte Angus. Er erinnerte sich an Alasdairs Gähnen im Pub. Männer mit Krebs oder gebrochenem Rücken schienen dadurch schläfrig zu werden. Die Welt war ein Ort, an dem man nie auslernte. Angus spürte, wie sein Körper in den Schlaf tauchte. Er selbst blieb an der Oberfläche zurück mit dem Gefühl, den richtigen Moment verpasst zu haben. Es war, als würde einem die Fähre nach Ullapool vor der Nase wegfahren. Als der Körper davontrieb und er am Ufer stand, merkte er, dass einiges nicht stimmte. Der Motor tuckerte nicht, es war ein Brummen, das manchmal in die Höhe schoss: Jemand schaltete in einen höheren Gang. Recht unüblich für Schiffe. Nachdem das erkannt war, hörte Angus die Sirene. Sie hielt mit dem Schiff Schritt. Sie folgte ihm, wohin immer es sich wandte. Sie war der treue Hund des

Weitere Kostenlose Bücher