Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Er

Er

Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
Welt.
    Wie umständlich es war, sich im Leben anderer Menschen zu bewegen! Zwischen gespannten Drähten suchte man einen Weg, bei einem falschen Schritt bimmelten die Glöcklein, bei einem falschen Wort öffneten sich die Zwinger der Hunde.
    »Mein Schätzchen«, sagte Lea zu Toni. »Du musst jetzt los. Sonst verpasst du Mae Geri. Und du willst das doch lernen. Dann musst du jetzt da hinfahren.«
    »Und darf ich dann daran denken, wie ich dem Baby in den Bauch trete?«, fragte Toni, sie zog die Nase hoch.
    »Nein, das darfst du nicht«, sagte Jensen.
    »Ich habe für so was jetzt einfach keine Zeit!«, sagte Lea und warf sich den Mantel über.
    Sie verließen das Haus, jeder auf seine Weise betrübt, nur dem Hund war leicht ums Herz, ihm genügte schon frische Luft, um unbeschwert zu sein.
    »Und wenn du noch was zum Abendessen einkaufen könntest«, sagte Lea. »Ich werde bis acht im Geschäft sein, ich komme nicht dazu.«
    Sie umarmte ihn.
    »Nimm’s ihr nicht übel«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
    »Flüstern ist unhöflich«, sagte Toni.
    Der kalte Regen zwang zur Eile und ließ das, was gewesen war, kleiner erscheinen.
    »Alles in Ordnung«, sagte Jensen. Er küsste Lea auf die Lippen.
    »Widerlich!«, sagte Toni. »Ihr küsst euch auf der Straße! Wie billige Flittchen.«
    »Bis gleich«, sagte Lea. Sie strich Jensen über die Wange. »Und du«, sagte sie zu Toni. »Üb fleißig. Und auf dem Heimweg zeigst du Hannes, wo’s das gute Sushi gibt. Er ist neu in der Stadt, verstehst du? Er kennt die Futterstellen noch nicht.«
    Jemand rief etwas.
    Jensen drehte sich um.
    Mitten auf der Straße ein Mann.
    Hupen.
    Der Mann rief etwas.
    Schaut er mich an?, dachte Jensen.
    Mit ausgestrecktem Arm lief der Mann einem Lieferwagen vor die Räder.
    Ein dumpfer Knall.
    Dann ein Moment der Stille. Das Gehirn ruhte sich aus, bevor es zu begreifen wagte, was geschah.
    Der Mann flog durch die Luft, die Arme winkten.
    Bremsen quietschten.
    Der Mann prallte gegen ein geparktes Auto.
    »Mama!«, sagte Toni. »Mama! Ich will das nicht sehen!«

[Menü]
    21
    E S GESCHAH ETWAS von großer Bedeutung. Die Sonne hüpfte auf seine Hand, er blies in die Glut, und als seine Hand verbrannte, schwebte die Sonne aus eigener Kraft. Ein Wind wehte sie fort, es wurde dunkel. Die Dinge geschahen nur für ihn. Das Gras wuchs seinetwegen und in ihm, er spürte es in seinen Knochen kribbeln. Ein Engel leckte ihm die verbrannte Hand, und jemand sagte: »Aus diesem Schmerz kann man Gebirge zimmern.« Das war zutreffend. Etwas weiter vorn wartete er auf sich selbst. Jemand musste ja zu einer Erkenntnis darüber kommen, wo Angus war. Man konnte nicht arbeiten, wenn man nicht wusste, wo man war. Es war eine unnötige Arbeit, das stand fest. Eine Arbeit, die er nur verrichtete, um etwas zu verhindern. »Keine Ahnung«, sagte jemand. Angus bezog auch das Unbedeutende auf sich. Dass die Sonne auf seine Hand gehüpft war, hielt er jetzt für Täuschung. Die Sonne gehörte an den Himmel, es war jetzt außerdem dunkel, aber warum? Er raffte etwas in sich zusammen, den Grips. »Davon hast du so viel wie der Frosch Zähne«, sagte seine Mutter. Dass sie auch hier war, störte Angus, er hätte das gerne allein erlebt. Es gehörte ihm, auch wenn es Unsinn war. Ein Unsinn mit einem Ausgang, er musste ihn nur finden. Vorn wartete jetzt keiner mehr, also war Angus schon bei sich angekommen. Es war ein gutes Gefühl, etwas erreicht zu haben. Es war dunkel, der Wind wehte, und er zurrte Seile fest. Es wuchs kein Gras in ihm, was sich so anfühlte war der Regen, war die Gischt, Buggischt. Na bitte!, dachte Angus. Das war ja nicht besonders schwierig gewesen.
    Er war auf dem Kutter, wo sonst?
    Er stemmte den Fuß gegen eine der Proviantkisten, damit er die Seile besser verzurren konnte. Mit den Kisten war alles in Ordnung, man kriegte den Finger keinen Millimeter unter die Taue, mit denen sie zusammengebunden waren. Es war unnötig, die straffen Seile noch straffer zu ziehen, aber drin war es Angus zu heiß geworden. Kann ganz schön heiß werden im Steuerraum eines Kutters, wenn dich zwölf Männer anglotzen, weil in der Ecke die Frau steht, von der die Männer denken, dass sie dein Kind abgetrieben hat. Die Männer sprachen über die Fischfangquote, über das Wetter, über die Kirchenschändung unten auf South Uist, ein betrunkener Katholik hatte an den Altar gepisst, weil seine Frau gestorben war. Aber alles, was die Männer sagten, war nur ein Hasenfell über ihren

Weitere Kostenlose Bücher