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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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das Gugablut lief ihm in den Rachen.
    »Siehst du? So!«, sagte er. Man konnte mit einem Vogelkopf zwischen den Zähnen erstaunlich deutlich sprechen.
    Lea richtete die Kamera auf ihn und drückte dreimal ab.
    Angus spuckte den Kopf in die Hand und warf ihn runter ins Meer.
    »Was soll das!«, sagte Craig. Er stieß Angus vor die Brust. »Das war nur ein dummer Scherz«, sagte er zu Lea. »Wir sind alle ein bisschen aufregt. Das ist am ersten Tag immer so. Ich bitte dich.«
    Lea schüttelte den Kopf.
    »Lösch das Foto«, sagte Craig. »Bitte.«
    Lea drehte sich um und ging weg. Man sah, dass hinten an ihrem Ölanzug Tölpeldreck runterrann, da war was von oben gekommen.
    »Geht’s jetzt weiter oder nicht?«, sagte Kevin.
    Craig schaute Angus an.
    »Euch kann man beide nicht brauchen«, sagte Craig.
    »Du solltest lieber wieder rausgehen und Gugas pflücken«, sagte Angus. »Ich will mich für diese Gruppe nicht schämen müssen.«
    Craig lachte, als sei Angus den Dreck unter seinen Fingernägeln nicht wert.
    Und dann stieg Craig wieder raus.
    Der Wind drehte auf Nordwest, er änderte die Taktik. Er schob sich jetzt zwischen Mann und Fels, um die beiden voneinander zu trennen. Craig klammerte sich fest und wartete auf Windpausen. Der Regen ritt auf dem Wind in die Gesichter.
    »Ich muss mal«, sagte Kevin. »Bin gleich wieder da. Das dauert ja sowieso ’ne Weile, bis er wieder einen hat.«
    »Du musst’s ja wissen«, sagte Angus.
    Er sah Craig draußen in den Klippen, ein Püppchen an einem Faden. Craig suchte Halt im Seil, es straffte sich und zog Angus einen Schritt Richtung Abgrund. Angus stemmte den Fuß gegen eine Felskante und schlang sich das Seil hinten um die Hüfte, jetzt konnte er sich selber ins Seil lehnen, gegen das Gewicht des Püppchens. Gischtwolken stoben von unten herauf. Das Püppchen suchte nach Stellen, in die es seine Fingerchen verkrallen konnte, aber der Fels war sehr nass und sehr glatt und gar nicht griffig. Angus spürte die Macht, die in dem Seil lag, und sie lag ganz bei ihm. Das Püppchen konnte nur hoffen. Es kletterte ein, zwei Meter weiter, ein fettes Nest lockte. Angus konnte von hier aus die zwei Stirndaunen des Gugas sehen. Es war schade, dass solche Augen sterben mussten.
    Und dann drehte der Wind.
    Es geschah plötzlich, so als hätte ihn jemand zurückgepfiffen. Der Regen, der soeben noch mit dem Nordwest geflogen war, flitzte jetzt in die entgegengesetzte Richtung. Angus konnte sich nicht erinnern, schon mal einen so dramatischen Windwechsel erlebt zu haben. Er blickte sich nach Kevin um, er hätte gern mit jemandem über das Phänomen gesprochen. Ein Südost! Das würde heute Abend zu reden geben. Oder eben besser schon jetzt. Aber Kevin stand in einiger Entfernung mit breiten Beinen da, und der Wind trug den Morgentee fort.
    Angus war allein mit dem Südost und mit Craig, der da an seinem Seil hing, nicht wie ein Püppchen, eher wie ein Hund, dachte Angus, dem man die lange Leine lässt.
    Ein solcher Windwechsel! Für Craig war’s ein Geschenk, denn der Wind kam nicht mehr an ihn ran. Im Windschatten der Klippen kletterte er zu dem Nest, die Fangschlinge baumelte schon über dem Gugakopf.
    Hundertachtzig Grad, wie konnte der Wind sich nur so schnell so grundsätzlich drehen? Angus verstand es einfach nicht. Es steckte eine Bedeutung dahinter, so was geschah nicht zum Spaß. Er dachte, dass man sich die Bedeutung vielleicht rauspicken konnte, dass man freie Wahl hatte. In diesem Moment begriff er, dass der Windwechsel ihm galt. Und dass er dasselbe tun musste wie der Wind: Er musste sich drehen und völlig verändern.
    Vorläufig war aber noch alles wie damals, als das alles hier tatsächlich geschen war.
    Angus stemmte den Fuß gegen die Felskante. Er sicherte das Hündchen, und er dachte, soll der Bastard doch verrecken. Er fühlte keinerlei Verantwortung für Craig. Wenn’s passiert, lass ich’s geschehen, dachte er. Er nahm das Seil nicht mehr ernst. Er gab seinen Fingern, die vom Zudrücken schmerzten, ein bisschen Urlaub. Es reichte, wenn er das Seil mit einer Hand festhielt. Angus ließ den Dingen ihren Lauf. Craig zog die Schlinge zu, und jetzt hatte er das Problem, dass das Gewicht seines Fangstabs sich durch den Guga veränderte, der sich in der Schlinge um sich selbst drehte. Craig musste balancieren, ein neues Gleichgewicht finden. Diese Sekunden, bis das Gleichgewicht sich wieder eingepegelt hatte, konnten einen den Hals kosten, wenn man an einer nassen

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