Er
»Aber jetzt schläft sie.«
»Sie kriegt solche Bilder nicht mehr aus dem Kopf«, sagte Lea. »Ich hoffe, sie hat nicht zu viel gesehen.«
»Es geht ihr gut. Und dir?«
»Sean hat sich ein paarmal übergeben«, sagte sie. »Ich fahre jetzt mit ihm ins Hotel zurück. Wenn der Papierkram hier erledigt ist. Der Arzt sagte, Angus sei sofort tot gewesen. Schwerste Schädelfrakturen. Tust du mir einen Gefallen?«
»Ja.«
»Kauf bitte etwas zum Abendessen ein. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme. Falls es zu spät wird, kochst du dann etwas für Toni?«
»Ja.«
»Sie schreibt morgen eine Mathearbeit. Sie muss spätestens um neun ins Bett.«
»Gut.«
Sie schwiegen.
»Ich liebe dich«, sagte Lea.
Es erreichte ihn nicht.
Sie sagte es zum ersten Mal, ausgerechnet in dieser ungeklärten Situation. Er fand es unpassend, so als würde man seine Jungfräulichkeit auf einer Bahnhoftoilette verlieren. Er liebte sie auch, aber es blieb ihm im Hals stecken.
»Ja«, sagte er. Das Misstrauen legte ihm die Worte auf die Zunge: »Und es sind also Leute, die du von früher kennst?« An der Unfallstelle war keine Zeit geblieben für Erklärungen. Leute aus meiner Heimat, hatte Lea gesagt, von der Insel Lewis, die Ambulanz erschien so schnell, als habe sie auf den Unfall gewartet. Sie sagte, sie werde ihm später alles erklären. Und jetzt war später.
»Der Tote ist Angus Morrison«, sagte sie, unwillig. »Wir waren zusammen in der Grundschule. Der andere heißt Sean MacAulay.«
Jensen ließ ihr Zeit, aber es kam nichts mehr.
»Und sie wollten dich besuchen?«, fragte er.
»Ich erklär’s dir heute Abend«, sagte sie. »Es ist eine alte Geschichte. Sie hat nichts mit dir und mir zu tun.«
Sie wich ihm aus. Bis heute Abend konnte er nicht warten. Die Craigfrage musste jetzt beantwortet werden, andernfalls verwandelte sie sich in etwas Säureähnliches, das sich durch seine Gefühle für Lea fraß.
»Und wer ist Craig?«, fragte Jensen.
»Craig?«
Er spürte eine Hitze im Nacken. Wenn die Leute eine Frage wiederholten, hatten sie meistens vor, als Nächstes zu lügen.
»Auch jemand von Lewis«, sagte Lea. »Ich muss jetzt Schluss machen. Wir reden heute Abend darüber.«
»Nein, warte«, sagte Jensen. »Nur eine Minute noch. Dieser Sean. Er dachte, ich sei Craig. Er hat mich mit ihm verwechselt. Das beunruhigt mich.«
»Warum denn?«
»Weil du mir nie etwas von Craig erzählt hast. Offenbar sehe ich ihm sehr ähnlich. Aber du hast das nie erwähnt. Und du kennst ihn doch. Oder nicht?«
Sag nein, dachte Jensen. Sag, ich kenne ihn nicht persönlich, hab ihn nie gesehen.
»Das besprechen wir heute Abend«, sagte Lea. »Ich hab jetzt wirklich keine Zeit. Aber mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung. Ich habe dir vorhin etwas gesagt. Die drei Worte. Ich sage das nicht so schnell. Ich hab’s auch schon lange nicht mehr gesagt.«
Ja, dachte er, aber warum gerade jetzt?
»Bis später«, sagte sie. »Ich küsse dich.«
Nie zuvor hatte sie so gesprochen.
Jensen öffnete die Flügeltür einen Spaltweit. Toni lag bäuchlings auf dem Sofa. Sie schnarchte auf rührende Weise. Er schloss die Tür wieder und zog den Mondrian-Band aus dem Stapel hervor. Er legte ihn auf Leas Schreibtisch.
Sie kannte Craig. Aber vielleicht war ihr die Ähnlichkeit nicht aufgefallen. Craig konnte irgendeiner sein, der in ihrem Leben keine Rolle spielte, der nur ein Hintergrundmensch war, ein Bewohner derselben Insel, ein Hallo über die Straße alle Jahre einmal.
Bitte, dachte Jensen.
Die Zeichnungen steckten in dem Bildband wie parasitäres Gewucher. Er zog die Blätter hervor und breitete sie auf dem Schreibtisch aus.
Es gab bei Tageslicht nichts anderes zu sehen als gestern in der Mondnacht: ein Mann, mit Bleistift oder Kohle gezeichnet, mit Sorgfalt und andererseits einer traumwandlerischen Nachlässigkeit, die den Bildern ihre Lebendigkeit verlieh. Eine Trauer befiel Jensen bei der Erinnerung an gestern. Seine bange Erwartung, auf den Blättern einen anderen zu sehen. Und dann hatte er sich gesehen, und das Glück war mit ihm ausgeritten.
Jetzt aber sah er ein Mischwesen, eine Hannes-Craig-Schimäre. Sein eigenes Gesicht gehörte nicht mehr ihm, er musste es sich mit einem Fremden teilen. Mit einem Doppelgänger, für den es zwei Kronzeugen gab.
Einer hatte, bevor er überfahren wurde, Jensen angeblickt, sehr persönlich und direkt. Wütend. Und er rief etwas.
»Craig!«
Der andere, Sean, hatte, als er Jensen sah, die Welt
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