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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Männern stehen, unten bei Geodha à Phuill Bhàin. Die Wellen warfen sich hoch, Alasdair hielt mit dem Feldstecher Ausschau nach Craig. Calum war auf die Klippen auf der anderen Seite der Bucht geklettert, sah aber auch nichts. Zwei Stunden starrten sie ins Meer. Lea drückte sich die Fäuste gegen die Schläfen. Sie schrie. Sie fiel auf die Knie und erbrach sich. Angus streckte ihr die Hand hin. Sie schrie ihn an. Sie schrie alle an. Es war Trauer, weil es Liebe war. Angus krümmte sich.
    Er stürzte und vergaß es.
    Lea schlug mit den Fäusten auf Alasdair ein. Er hatte ihren Liebsten bei gefährlichem Wetter auf die Klippen hinausgeschickt. Sie machte ihn verantwortlich für Craigs Tod. Solange du lebst, sagte sie, werde ich Rücksicht nehmen. Aber wenn du tot bist, sorge ich dafür, dass es den Cull nicht mehr gibt.
    Das Foto, auf dem Angus den blutenden Vogelkopf zwischen den Zähnen hielt.
    Angus sah die Männer in der Nördlichen sich beraten. Ein tödlicher Unfall, das Foto, zu viel für den Cull. Sie verschworen sich. Keiner sollte erfahren, wie es wirklich war. Wir erzählen allen das: Craig verließ nachts die Hütte, um zu pinkeln. Hatte viel getrunken am Abend. Es war dunkel, der Alkohol, ein falscher Tritt. Und Lea … man wird sehen.
    Angus stürzte und vergaß auch das.
    Das Letzte, das er sah, war die Dunkelheit.

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    24
    »L ASS IHN JETZT wieder rein«, sagte Jensen. »Es ist kalt draußen.«
    »Hunde frieren nicht«, sagte Toni.
    »Sie frieren. Aber sie fressen keine Seelen«, sagte Jensen.
    Toni hatte den Hund auf den Balkon gesperrt, damit die Seele des Verunfallten ihn als neue Behausung wählte.
    »Wenn die Seele den Hund sieht«, sagte Toni, »wird sie denken: Besser als nichts. Sie fährt dann in seinen Körper und verschont uns. Außerdem fressen Hunde Seelen. Die sind das perfekte Paar. Wie du und Mama.«
    Der Hund zitterte, er atmete gegen die Scheibe, sie beschlug.
    »Ich lasse ihn jetzt rein«, sagte Jensen.
    »Nein! Das darfst du nicht!« Toni versperrte ihm den Weg. »Die Seele ist noch nicht drin. Sonst würde er knurren. Wenn er knurrt, lassen wir ihn rein, vorher nicht.«
    »Toni. Er ist ein Blindenhund. Er hat in seinem ganzen Leben noch nie geknurrt. Und der Mann, der da überfahren worden ist …« Jensen bezweifelte, dass Toni an den Himmel glaubte. »Seine Seele ist im Weltraum«, sagte er. »Es geht ihr gut. Sie sucht sich keinen neuen Körper. Sie hat genug von Körpern. Sie will ein Stern sein.«
    »Quatsch!«, sagte Toni. »Du willst nur deinen Hund retten. Du magst ihn mehr als mich. Dir wär’s egal, wenn die Seele mich versklavt. Aber mir ist’s nicht egal. Und Mama auch nicht. Mama mag mich mehr als dich. Sie hat’s mir gestern gesagt.«
    Jensen ignorierte den kleinen Schmerz, den diese Bemerkung verursachte.
    »Natürlich mag sie dich mehr als mich«, sagte er mit trockenem Hals. »Du bist ihr Kind. Sie liebt dich mehr als alles andere auf der Welt. Und ich mag dich auch. Und zwar mehr als den Hund, das kannst du mir glauben. Aber Seelen suchen sich keine neuen Körper, sie …«
    »Tun sie doch!«, schrie Toni. Tränen spritzten ihr aus den Augen. »Sie suchen sich einen Körper, den sie lecker finden. Und wenn sie in deinem Körper sind, fressen sie deine eigene Seele auf. Und dann weißt du nicht mehr, wer du bist, und keiner kann dich retten. Glaubst du, dass das Spaß macht? Es ist Scheiße! Scheiße!«
    Sie rannte aus dem Zimmer, kam aber gleich wieder zurück und rief: »Ich will das nicht sehen!« Sie warf sich aufs Sofa, drückte das Gesicht ins Kissen. »Ich hab gesehen, wie er aus dem Kopf blutet! Das ist widerlich. Ich will das nicht sehen. Ich will nicht, dass Menschen sterben. Der Hund soll sterben! Der Hund!«
    Jensen setzte sich zu ihr und legte die Hand auf ihre Schulter. Es gab keinen Trost für das, was sie empfand. Er strich ihr übers Haar. Die Wahrheit war ein Skandal, Toni hatte recht.
    Lange saßen sie so da. Toni weinte, Jensen hielt Wache. Das Weinen erschöpfte sie, sie schlief ein. Jensen entfernte sich leise, schloss die Durchgangstür zum Wohnzimmer und erlöste den Hund. Das Tier brachte von draußen die Kälte mit und eine erfrischende Teilnahmslosigkeit. Für einen Moment genoss Jensen die Gesellschaft eines Wesens, das den Tod nicht kannte.
    Lea rief an.
    »Und?«, fragte Jensen.
    »Wie geht es Toni?«, fragte sie. Im Hintergrund Krankenhausgeräusche: gedämpfte Geschäftigkeit. »Spricht sie davon?«
    »Ja«, sagte Jensen.

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