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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Felswand klebte.
    Angus drehte sich nach Kevin um. Kevin schüttelte sein Zipfelchen trocken. Er war zu weit weg, um etwas davon mitzukriegen, was zwischen Angus und Craig geschah.
    Angus gab dem Seil mehr Spiel. Gut möglich, dass er einfach keine Kraft mehr in den Armen hatte. Oder es wurde ihm zu bunt. Wozu sich für Craig ins Zeug legen. Er wollte einfach nur mal wissen, wie es sich anfühlte, wenn Craig ungesichert war. Angus ließ das Seil fallen. Er setzte den linken Fuß darauf, damit es nicht über die Bruchkante rutschte. Es fühlte sich gut an, so nachlässig zu sein. Leck mich am Arsch, dachte Angus. Er verschränkte die Arme auf dem Rücken. Das gefiel ihm besonders. Er tanzte auf Craigs Leben. Wenn er jetzt ausrutscht, dachte Angus, ist er futsch. Die Vorstellung befriedigte ihn vollkommen. Die Vorstellung hätte genügt.
    Dass es dann wirklich geschah, war überflüssig. Eine Übertreibung.
    Craig sackte ab.
    Ein falscher Tritt.
    Der Fangstab torkelte in die Tiefe. Das Meer öffnete den Schlund und verschluckte ihn. Eine Vorspeise, das Beste daran war der Guga.
    Craig hing an seinen Fingern im Fels. Das Seil unter Angus Fuß blieb erstaunlich unbeteiligt. Es spannte sich ein wenig, rutschte aber nicht weg.
    Sieht übel aus, dachte Angus.
    Er konnte sich nicht entschließen, das Seil zu packen. Er sah nicht ein, warum er das hätte tun sollen. Er fand keinen überzeugenden Grund dafür. Was da geschah, war übertrieben, aber es war auch richtig.
    Allein könnte ich ihn gar nicht halten, dachte Angus.
    Er schaute nicht mehr hin. Alles, was er wissen musste, sagte ihm das Seil unter seinem Fuß. Der Südost blies kräftig, man hörte von Craig nichts. Alles geschah hinter vorgehaltener Hand.
    Plötzlich zuckte das Seil und war weg. Angus spürte das Zucken noch in den Zehen, als Kevin zurückkam und sagte: »So ein Mist. Ich pisse, und plötzlich dreht der Wind, und ich hab alles in der Hose. Und wie läuft’s bei euch? Wo ist Craig? Wann krieg ich den nächsten Guga?«
    So war es damals gewesen.
    Aber diesmal war’s anders.
    Auch diesmal stürzte Craig ab, denn was geschehen war, konnte man nicht ändern. Aber man konnte es mit anderen Augen sehen.
    Angus spürte das Seil unter der Sohle seiner Gummistiefel.
    Er hob den Kopf.
    Craig hing an den Fingern im Fels.
    Es konnte sich unendlich oft wiederholen. Es endete erst, wenn man seine Einstellung dazu änderte.
    Angus zählte von zehn auf null zurück. Er wünschte Craig einen nassen Tod, so konnte es nicht weitergehen. Craig und Lea und das Kind, das er auf seine Kappe genommen hatte, eine üble Sache. Aber daran war nicht Craig schuld. Du hast im Rosalea die Hose nicht aufgekriegt, dachte Angus. Das Seil unter seiner Schuhsohle bewegte sich, als wäre da eine Schlange eingeklemmt. Lea kam hinter der Mauer hervor, sie hatte auf ihn gewartet. Ihr Rock flatterte im Wind, sie drückte ihn mit beiden Händen nieder. Sie sagte: »Was ist denn? Warum sprichst du nicht mehr mit mir?«
    »Hau ab«, sagte er. »Ich liebe dich nicht mehr.« Was wunder, dass sie sich nach einem anderen umschaute!
    Angus griff nach dem Seil. Er band es sich um die Hüfte. Craigs Gewicht vorn und den Südost im Rücken, das waren schlechte Voraussetzungen. Der eine zog, der andere stieß ihn in Richtung der Bruchkante, und dort ging’s abwärts.
    Ich werd mich hier nicht behaupten, dachte Angus.
    Und das war der Punkt.
    Er hatte sich im Rosalea nicht behauptet und in seinem ganzen Leben nicht. Die Erde unter seinen Füßen war zu dünn gewesen. Sie hätte einen leichteren Menschen getragen, aber nicht ihn. Er hätte leichter sein können, aber dazu war es nicht gekommen. Aber auch er konnte nichts dafür. Oder wenn, war es jetzt Zeit, es zu vergessen. Es gab keine schuldigen Toten. Also war es Unsinn, die Schuld mitzunehmen.
    Und als Craig stürzte und Angus mit sich riss, verzieh Angus sich selbst. Denn er begriff, dass es das Verzeihen war, das einen leicht machte, im Leben wie im Tod. Es war eine so wunderbare Erkenntnis, dass er den Tod mit weit offenen Augen erwartete wie einen lange vermissten Freund.
    Angus stürzte ins Glück.
    Die Engel besaßen keine feste Gestalt, weil sie frei waren von Schuld. Und sie waren frei von Schuld, weil sie sich alles verziehen hatten.
    Es gab nichts mehr, an das er dachte. Er sah noch vieles, aber es betraf ihn nicht mehr. Er verwandelte sich in Engelsstaub, der alle Dinge durchdrang, ohne an ihnen zu haften.
    Angus sah sich zwischen den

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