Er
nicht mehr verstanden.
»Craig? Das hättest du nicht tun dürfen!«
Wen also hatte Lea gezeichnet?
Jensen setzte die Lesebrille auf. Er untersuchte die Porträts im Detail. Die Stellung der Augen. Den Schwung der Ohren. Er zählte die Haare auf dem Kopf, vermaß die Nasenlänge. Wenn es wirklich Craig war, hatte die Natur sich einen Scherz erlaubt und zwei identische Gesichter erzeugt.
Jensen suchte auf der Rückseite der Blätter nach Datumszahlen, fand keine. Er befeuchtete den Finger und strich über die Bleistiftlinien ohne genau zu wissen, was er sich davon erhoffte. Bleistaub haftete an seinen Fingern. Er war ratlos.
Dann erst fiel ihm das Offensichtliche auf.
Das Zeichenpapier war alt.
Es ist altes Papier, dachte er. Es sind alte Zeichnungen. Die Erkenntnis traf ihn mit Wucht.
Ihm wurde alles aus den Händen geschlagen. Ihm wurden die Taschen geleert, die Träume geraubt, er vergaß zu atmen vor Trauer und Enttäuschung. Sein Herz verbog sich. Unter seinem Brustbein nistete sich ein spitzer, stärker werdender Schmerz ein, durchaus nicht metaphorischer Natur, sondern ischämisch. Er bewegte seinen linken Arm, um den Schmerz zu verzetteln, es half nichts.
Und wenn schon!, dachte er. Wenn Lea ihn tot auf dem Teppich vorfand, gab es für sie keine Ausrede. Die Zeichnungen auf dem Schreibtisch würden Jensens Infarkt ausreichend erklären. Bei der Vorstellung empfand er eine enge, bittere Freude.
Er untersuchte das Zeichenpapier jetzt akribisch, entdeckte Flecken, Spuren vor langer Zeit eingetrockneter Flüssigkeiten. Eine umgebogene Ecke eines Blattes spaltete sich bereits, die Papierschichten lösten sich voneinander. Er roch an dem Papier, und es roch alt. Vergilbte Ränder. Das Papier wurde immer älter, je länger Jensen es untersuchte. Er schraubte seine Schätzung auf zehn, fünfzehn Jahre hoch.
Er aber kannte Lea erst seit knapp vier Wochen.
Mit tränenverschleierten Augen nahm Jensen den schrecklichsten Schlag hin: Nicht alle Zeichnungen waren alt. Es gab auch frisches, neues Papier, nur der Mann darauf blieb derselbe wie seit Jahren. Lea hatte Craig über große Zeiträume hinweg gezeichnet, mit beständiger, obsessiver Leidenschaft.
Alle Küsse auf Jensens Lippen, alle Blicke in seine Augen gezimmert aus billigen Lügen.
Der Stuhl spuckte ihn aus, der Tisch stieß ihn von sich weg, Jensen taumelte in den Flur, er riss die Tür zu Leas Schlafzimmer auf, zerrte die Überdecke runter, das Bettlaken, die Kissen warf er an die Wand, er rang mit der Matratze, schlug auf sie ein. Das Weinen glich einem Erbrechen, er krümmte sich in Krämpfen, bekam keine Luft, der Schmerz unter dem Brustbein schoss wieder hoch.
Nach dem Kampf stand Jensen auf, die Wand lehnte sich an ihn, er hielt sie sich mit der Hand vom Leib. Das Telefon stand auf einer alten Kommode im Flur. Annas Nummer war gespeichert. Jensen drückte die Anruftaste.
»Ja, Schätzchen?«, sagte Anna.
»Ich bin’s. Ist Frank da?«
»Hannes? Bist du das? Ich dachte, es sei Lea. Warum rufst du mich mit ihrem Telefon an?«
»Ist er da?«
»Und guten Tag erst mal. Wie geht es dir? Danke, mir geht es gut. Dir nicht, schätze ich mal. Du klingst, als hättest du geweint. Oder bist du nur erkältet? Frank ist nicht da.«
»Ich muss dringend mit ihm sprechen. Gibst du mir bitte seine Handynummer.«
»Dringend? Worüber denn? Habt ihr beiden Geheimnisse vor mir?«
»Gib mir seine Handynummer!«, rief Jensen.
Anna legte auf.
Jensen schmiss das Telefon an die Wand, das Batteriefach sprang auf.
Versprich mir, dass du mir und Toni nie etwas antust.
Leas Worte.
In ihrem Notebook fand er unter FREUNDE Franks Handynummer.
»Was denn für Zeichnungen?«, sagte Frank.
»Du hast mir in Venedig davon erzählt. Und jetzt möchte ich wissen, was du damit gemeint hast. Was du gesehen hast.«
»Sag mal, geht’s dir gut? Habt ihr Zoff, du und Lea? Brauchst du ein Sofa für heute Nacht?«
»Ich will wissen, was du damit gemeint hast! Dass du froh bist, dass ich nicht nur wegen Lea nach Berlin ziehe. Und dass das mit den Zeichnungen zusammenhängt. Hast du damit den Mann gemeint, den sie zeichnet?«
»Ach das! Nein. Warum? Zeichnet sie jetzt ganze Männer?«
»Das ist sehr wichtig für mich«, sagte Jensen. »Verstehst du? Es ist wichtig. Hör mir einfach nur zu und beantworte meine Fragen. War da ein Mann drauf, auf den Zeichnungen, die du gesehen hast? Ein Mann, der aussieht wie ich?«
Frank schwieg.
»Na gut«, sagte Jensen, »dann
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