Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
zogen.
Drei verzerrte Schatten flogen über die Stadt – wie kleine, sich bewegende Risse in der Realität – und landeten auf dem Dach des Gebäudes zu seiner Linken. Dann sträubten die dunklen, eulenförmigen Silhouetten ihre borstigen Federn und starrten ihn mit bösen, leuchtenden Augen an. Die Schatten keckerten leise und zwei von ihnen kratzten sich mit Krallen, die keine Tiefe hatten, die hohlen Flügel. Der dritte hielt die Überreste eines Frosches in seinen ebenholzschwarzen Klauen.
Er sah die bedrohlichen Vögel minutenlang an und sie sahen ihn an, bis sie schließlich aufflogen und auf ihre geisterhafte Art nach Westen verschwanden, ohne mehr Geräusche zu machen als eine zu Boden schwebende Feder.
Kurz vor Tagesanbruch, als Eragon den Morgenstern zwischen zwei Gipfeln im Osten sah, fragte er sich selbst: »Was will ich?«
Bis dahin hatte er diese Frage nicht weiter beachtet. Er wollte Galbatorix stürzen: natürlich. Aber falls ihnen das wirklich gelingen sollte, was dann? Seit er das Palancar-Tal verlassen hatte, hatte er immer gedacht, dass er und Saphira eines Tages dorthin zurückkehren würden, um in der Nähe der Berge zu leben, die er so liebte. Doch als er jetzt über diese Aussicht nachdachte, erkannte er allmählich, dass sie keinen Reiz mehr auf ihn ausübte.
Er war im Palancar-Tal aufgewachsen und würde es immer als seine Heimat betrachten. Aber was gab es dort noch für ihn und Saphira? Carvahall war zerstört, und selbst wenn die Dorfbewohner es eines Tages wieder aufbauen würden, wäre das Dorf nie wieder dasselbe. Außerdem lebten seine und Saphiras Freunde andernorts und sie beide hatten Verpflichtungen gegenüber den verschiedenen Völkern Alagaësias – Verpflichtungen, die sie nicht vernachlässigen konnten. Und nach all dem, was sie getan und gesehen hatten, konnte er sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen damit zufrieden wäre, an einem solch normalen, abgelegenen Ort zu leben.
Denn der Himmel ist weit und die Welt ist rund …
Selbst wenn sie tatsächlich zurückkehrten, was würden sie dort tun? Kühe halten und Weizen anbauen? Er hatte kein Verlangen danach, mühsam von dem zu leben, was das Land hergab, wie seine Familie es in seiner Kindheit getan hatte. Er und Saphira waren Reiter und Drache. Ihre Bestimmung und ihr Schicksal war es, in der vordersten Reihe der Geschichte zu fliegen, nicht vor einem Feuer zu sitzen und fett und träge zu werden.
Und dann war da noch Arya. Wenn er und Saphira im Palancar-Tal leben würden, dann würde er sie nur noch selten sehen, wenn überhaupt.
»Nein«, sagte Eragon und das Wort klang in der Stille wie ein Hammerschlag. »Ich will nicht dorthin zurück.«
Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Er hatte gewusst, dass er sich verändert hatte, seit er, Brom und Saphira aufgebrochen waren, um die Ra’zac aufzuspüren. Aber er hatte sich an den Glauben geklammert, dass er im Herzen noch immer derselbe war. Jetzt erkannte er, dass das längst nicht mehr stimmte. Den Jungen, der er gewesen war, als er sich das erste Mal aus dem Palancar-Tal hinausgewagt hatte, gab es nicht mehr. Eragon sah nicht mehr aus wie er, er benahm sich nicht mehr wie er und er wollte nicht mehr dieselben Dinge vom Leben.
Er holte tief Luft und stieß den Atem dann in einem langen, bebenden Seufzer aus, während ihm die Wahrheit dämmerte.
»Ich bin nicht mehr der, der ich war.« Es laut auszusprechen, schien dem Gedanken Gewicht zu verleihen.
Dann, als das erste Licht der Morgendämmerung den östlichen Himmel über der uralten Insel Vroengard erhellte, auf der die Reiter und Drachen einst gelebt hatten, fiel ihm ein Name ein – ein Name, wie ihm zuvor noch keiner eingefallen war –, und bei dem Gedanken überkam ihn ein Gefühl der Gewissheit.
Er sagte den Namen, flüsterte ihn in den tiefsten Winkeln seines Geistes vor sich hin und sein ganzer Körper schien zu vibrieren, als hätte Saphira gegen die Säule unter ihm geschlagen.
Dann keuchte er auf und stellte fest, dass er gleichzeitig lachte und weinte. Er lachte, weil er Erfolg gehabt hatte und aus reiner Freude darüber, endlich zu verstehen; und er weinte, weil all sein Scheitern, alle Fehler, die er gemacht hatte, ihm jetzt klar geworden waren und er keine Illusionen mehr hatte, mit denen er sich trösten konnte.
»Ich bin nicht mehr der, der ich war«, wisperte er und umfasste die Kanten der Säule, »aber ich weiß, wer ich bin.«
Der Name, sein wahrer Name, war
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