Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
einen schnellen Blick zu Gertrude, dann bewegte sich sein großer, schaufelförmiger Bart von links nach rechts, während seine Kiefer mahlten, und er befeuchtete die Lippen mit der Zunge. »Kannst du … Kannst du irgendetwas für sie tun, was meinst du?«
»Vielleicht«, antwortete Eragon. »Ich werde es versuchen.«
Er streckte die Arme aus. Nach kurzem Zögern übergab Gertrude ihm das warme Bündel, dann wich sie zurück. Sie wirkte verstört.
Tief in den Stofffalten ruhte das winzige, runzlige Gesicht des Mädchens. Ihre Haut war dunkelrot, ihre Augen zugeschwollen und sie schien eine Grimasse zu schneiden, als sei sie wütend über die jüngsten Misshandlungen – eine Reaktion, die Eragon vollkommen verständlich fand. Das Auffälligste an ihrem Gesicht war allerdings die breite Spalte, die sich vom linken Nasenloch bis zur Mitte ihrer Oberlippe erstreckte. Durch sie war die kleine rosige Zunge des Säuglings zu sehen, die dalag wie eine weiche, feuchte Schnecke und gelegentlich zuckte.
»Bitte«, flehte Horst. »Gibt es irgendeine Möglichkeit …«
Eragon zuckte zusammen, als das Wehklagen der Frauen auf einmal besonders schrill wurde. »Ich kann mich hier nicht konzentrieren«, erklärte er.
Als er sich zum Gehen wandte, meldete sich Gertrude zu Wort: »Ich werde mit dir kommen. Es muss jemand bei ihr bleiben, der weiß, wie man sich um ein Kind kümmert.«
Eragon war nicht begeistert davon, Gertrude die ganze Zeit um sich zu haben, während er versuchte, das Gesicht des Mädchens zu heilen, und er wollte es ihr gerade ausreden, als er sich erinnerte, was Arya über Wechselbälger gesagt hatte. Jemand aus Carvahall, jemand, dem die übrigen Dorfbewohner vertrauten, sollte bei der Heilung des Mädchens zugegen sein, um später vor allen Leuten bezeugen zu können, dass das Kind noch immer dasselbe war.
»Wie du möchtest«, erwiderte er und behielt seine Einwände für sich.
Das Kind zappelte in seinen Armen und stieß einen klagenden Schrei aus, als Eragon das Zelt verließ. Auf der anderen Seite des Wegs standen die Dorfbewohner und zeigten auf ihn. Albriech und Baldor kamen auf ihn zu. Doch Eragon schüttelte den Kopf und sie blieben, wo sie waren, und sahen ihm mit hilfloser Miene hinterher.
Arya und Gertrude flankierten Eragon, während er durch das Lager zu seinem Zelt schritt, und als Saphira ihnen folgte, zitterte der Boden unter ihren Füßen. Krieger traten eilig beiseite, um sie vorbeizulassen.
Eragon bemühte sich, seine Schritte so leicht wie möglich zu setzen, um das Kind nicht durchzurütteln. Ein starker, moschusartiger Geruch haftete dem Mädchen an, wie Waldboden an einem warmen Sommertag.
Sie hatten ihr Ziel fast erreicht, als Eragon das Hexenkind Elva zwischen zwei Zeltreihen am Weg stehen sah. Mit ernstem Gesicht starrte sie ihn aus ihren großen violetten Augen an. Sie trug ein schwarzes und purpurnes Kleid mit einem langen Schleier aus Spitze. Den Schleier hatte sie zurückgeschlagen, sodass man auf ihrer Stirn das silbrige, sternförmige Mal sehen konnte, das seiner Gedwëy Ignasia glich.
Sie sagte kein einziges Wort und versuchte auch nicht, ihn aufzuhalten. Trotzdem verstand Eragon die Warnung, denn ihre bloße Anwesenheit empfand er als Vorwurf. Schon einmal hatte er das Schicksal eines Säuglings zu ändern versucht, und das hatte schwerwiegende Konsequenzen gehabt. Er konnte es sich nicht erlauben, erneut einen solchen Fehler zu begehen. Nicht nur wegen des Schadens, den er damit anrichten würde, sondern weil er Elva dann für immer zur Todfeindin haben würde.
Trotz all seiner Macht hatte Eragon Angst vor Elva. Ihre Fähigkeit, anderen ins Herz und in die Seele zu blicken und all ihren Kummer und ihre Schmerzen zu erkennen – und darüber hinaus alles vorauszusehen, was ihnen Schaden zufügen würde –, machte sie zu einem der gefährlichsten Wesen in ganz Alagaësia.
Egal was passiert, dachte Eragon, als er sein dunkles Zelt betrat, ich will diesem Mädchen nicht schaden.
Und er war noch fester entschlossen, dem Kind die Chance zu geben, das Leben zu leben, das die Umstände ihm vorenthalten wollten.
EIN WIEGENLIED
N
ur das schwache Licht der Dämmerung erhellte Eragons Zelt. Alles darin war grau, wie aus Granit gemeißelt. Mit seiner Elfensicht konnte Eragon die Umrisse der Gegenstände mühelos erkennen, aber er wusste, dass Gertrude Schwierigkeiten haben würde. Daher sagte er: »Naina hvitr un Böllr«, und schuf für sie ein kleines leuchtendes
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