Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
stricken. Das gleichmäßige Klappern ihrer Nadeln beruhigte Eragon. Dieses Geräusch hatte er oft während seiner Kindheit gehört und er verband es mit kühlen Herbstabenden, an denen man ums Küchenfeuer saß und den Geschichten lauschte, die die Erwachsenen erzählten, während sie eine Pfeife rauchten oder nach einem üppigen Abendessen einen Schluck dunkles Bier tranken.
Als er und Saphira endlich davon überzeugt waren, dass die Zauber in Ordnung waren, und Eragon sich zuversichtlich fühlte, dass seine Zunge nicht über irgendeinen der seltsamen Laute der alten Sprache stolpern würde, beschwor Eragon die vereinte Macht von Drache und Reiter und bereitete sich darauf vor, den ersten Zauber zu wirken.
Doch dann zögerte er.
Wenn die Elfen Magie benutzten, um einen Baum oder eine Blume dazu zu bringen, in der von ihnen gewünschten Gestalt zu wachsen, oder um ihre Gestalt zu verändern – oder die eines anderen Wesens –, kleideten sie, soweit er wusste, den Zauber immer in die Form eines Liedes. Es schien ihm daher angemessen, das ebenfalls zu tun. Aber er kannte nur wenige der vielen Lieder der Elfen und kein einziges gut genug, um diese wunderschönen und verschlungenen Melodien richtig – oder auch nur halbwegs richtig – wiederzugeben.
Daher wählte er stattdessen ein Lied aus längst vergangenen Tagen. Seine Tante Marian hatte es ihm vorgesungen, als er klein war, bevor die Krankheit sie ihm genommen hatte. Es war ein Lied, das die Frauen aus Carvahall ihren Kindern seit undenklichen Zeiten vorsangen, wenn sie sie ins Bett gelegt und in ihre Decken gehüllt hatten für eine ruhige Nacht: ein Schlaflied – ein Wiegenlied. Die Melodie war einfach und eingängig. Sie hatte etwas Besänftigendes und er hoffte, dass das Kind dadurch ruhig bleiben würde.
Er begann leise, ließ die Worte sich langsam entfalten und der Klang seiner Stimme breitete sich im Zelt aus wie die Wärme eines Feuers. Bevor er Magie benutzte, erklärte er der Kleinen in der alten Sprache, dass er ihr Freund sei, dass er es gut mit ihr meine und dass sie ihm vertrauen möge.
Als würde sie ihm antworten, regte sie sich im Schlaf und ihre winzigen, verkrampften Züge entspannten sich.
Dann begann Eragon mit dem ersten Zauber: eine einfache Beschwörung, die aus zwei kurzen Sätzen bestand, die er wie ein Gebet wieder und wieder rezitierte. Die kleine rosige Stelle, an der sich die beiden Hälften der gespaltenen Lippe trafen, schimmerte und wand sich, als rege sich unter der Oberfläche eine schlafende Kreatur.
Was er versuchte, war alles andere als einfach. Die Knochen des Säuglings waren wie die eines jeden neugeborenen Kindes weich und knorpelig, anders als die eines Erwachsenen und daher anders als alle Knochen, die er während seiner Zeit bei den Varden geheilt hatte. Er musste vorsichtig sein, damit er die Spalte im Mund des Säuglings nicht mit den Knochen, dem Fleisch und der Haut eines Erwachsenen füllte, denn sonst würde diese Stelle nicht mit dem Rest des Körpers weiterwachsen.
Außerdem würde er, nachdem er die Lücke im oberen Gaumen und dem Zahnfleisch geschlossen hatte, die Anlage der beiden Schneidezähne an die richtige Stelle schieben und gerade rücken müssen, etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Noch schwieriger wurde das Ganze dadurch, dass er das Mädchen noch nie ohne ihre Missbildung gesehen hatte, sich also nicht sicher sein konnte, wie ihre Lippen und ihr Mund eigentlich werden sollten. Das Kind sah aus wie alle Säuglinge, die er bisher gesehen hatte: rundlich, pummelig und ohne irgendwelche besonderen Merkmale, bis auf die Hasenscharte. Sorgen machte ihm deshalb auch, dass er dem Mädchen ein Gesicht geben könnte, das im Augenblick ganz hübsch erscheinen mochte, das aber im Laufe der Jahre seltsam und unattraktiv werden könnte.
Also ging er vorsichtig zu Werke, nahm immer nur kleine Veränderungen vor und hielt nach jeder einzelnen inne, um das Resultat zu prüfen. Er begann mit den tiefsten Schichten im Gesicht des Mädchens, mit den Knochen und den Knorpeln, und arbeitete sich langsam nach außen vor, wobei er die ganze Zeit über seine Beschwörungen zu der Melodie des Wiegenliedes sang.
Irgendwann begann Saphira mitzusummen und ihre tiefe Stimme ließ die Luft vibrieren. Je nach der Lautstärke ihres Summens wurde das Werlicht heller oder dunkler, ein Phänomen, das Eragon über die Maßen eigenartig fand. Er beschloss, Saphira später danach zu fragen.
Wort für Wort, Zauber
Weitere Kostenlose Bücher