Erbarmen
aktivieren würden? Wie viele Idioten wurden von ihren Familien geschützt? Carl hatte es schon tausendmal gehört. Mein Bruder, mein Sohn, mein Mann, alle waren sie unschuldig.
»Sie halten sehr viel von Ihrem Bruder. Überschätzen Sie ihn vielleicht doch ein bisschen?«
Sie ergriff sein Handgelenk und brachte ihr Gesicht so dicht an seins, dass er ihren Pony an der Nase spürte.
»Wenn du bei deinen Ermittlungen so träge bist wie in deiner Hose, kannst du jetzt genauso gut verschwinden«, zischte sie.
Ihre Reaktion war heftig und verletzend. Also doch nicht die Direktionsetage, dachte er und zog den Kopf zurück.
»Mein Bruder war okay, ist das klar?«, fuhr sie fort. »Und wenn du weiterkommen willst in deinem Fall, dann rate ich dir, das, was ich gesagt habe, ernst zu nehmen.« Dann griff sie ihm in den Schritt - und plötzlich war sie wieder ganz die Alte. Die Metamorphose war schockierend. Jetzt war sie wieder sanft und durchaus vertrauenerweckend.
Er runzelte die Stirn und ging einen Schritt auf sie zu. »Wenn du mir das nächste Mal an die Eier gehst, dann punktiere ich deine Silikonbomben und behaupte, das sei passiert, weil du dich der Festnahme widersetzt hast. Wenn du dann in der Zelle in Hillerød an eine ziemlich weiße Wand starrst, wirst du dir wünschen, deine Attacke zurücknehmen zu können. Können wir jetzt weitermachen, oder hast du noch etwas hinzuzufügen, meine edleren Teile betreffend?«
Sie lächelte nicht einmal. »Ich sage nur, dass mein Bruder okay war, und das müssen Sie eben einfach glauben.«
Carl gab auf. Sie war nicht so leicht zu erschüttern.
»Ja, also dann«, sagte er. »Und wo finde ich nun diesen Atomos?«, fragte er und zog sich einen Schritt von diesem Chamäleon zurück. »Können Sie sich wirklich nicht mehr erinnern?«
»Wissen Sie was, der war fünf Jahre jünger als ich. Nichts konnte mich damals weniger interessieren.«
Er lächelte. So können sich mit den Jahren die Interessen ändern.
»Irgendwelche besonderen Kennzeichen? Narben, Haare, Zähne? Gab es hier im Ort andere, die ihn kannten?«
»Das glaube ich nicht. Er kam aus einem Kinderheim oben in Tisvildelej e.«
Sie stand einen Moment ruhig da und dachte nach. »Wissen Sie was?« Sie wandte sich ihm wieder zu. »Ich glaube, das Heim hieß Godhavn.« Sie nahm das Foto mit Atomos und reichte es ihm. »Wenn Sie versprechen, damit zurückzukommen, können Sie doch versuchen, es dort im Kinderheim jemandem zu zeigen. Vielleicht haben die Antworten auf Ihre Fragen.«
Der Wagen hielt an einer sonnenknisternden Kreuzung, und Carl dachte nach. Er konnte Richtung Norden nach Tisvildeleje fahren und mit Menschen in einem Kinderheim reden, in der Hoffnung, dass es dort noch jemanden gab, der sich an einen Jungen erinnerte, der Atomos genannt wurde, vor zwanzig Jahren. Oder er konnte Richtung Süden fahren, nach Egely, und mit Uffe Vergangenheit spielen. Und außerdem konnte er das Auto am Straßenrand parken und das Nachdenken auf Standby schalten und sich ein paar Stunden aufs Ohr legen. Besonders das Letzte schien äußerst verlockend.
Allerdings war die Gefahr groß, dass er seinen Mieter verlieren würde, wenn er die Playmobil-Figuren nicht rechtzeitig auf Morten Hollands Regal zurückstellte. Und damit einen bedeutenden Teil seines Einkommens.
Deshalb löste er die Handbremse und bog nach links ab, Richtung Süden.
In Egely war es Zeit fürs Mittagessen. Als er den Wagen parkte, kam ihm ein Duft von Thymian und Tomatensoße entgegen. Er fand den Heimleiter allein an einem langen Teakholztisch auf der Terrasse vor seinem Büro. Wie beim letzten Mal war er die Korrektheit in Person. Mit dem Sonnenhut auf dem Kopf und der Serviette im Halsausschnitt, kostete er vorsichtig ein auf dem großen Teller verschwindend klein aussehendes Stück Lasagne. Er war niemand, der für irdische Freuden lebte. Das galt nicht unbedingt für seine Mitarbeiter in der Verwaltung und ein paar Krankenschwestern, die zehn Meter entfernt saßen, die Teller gut gefüllt und in eine lebhafte Unterhaltung vertieft.
Sie sahen ihn um die Ecke kommen und wurden plötzlich still. Jetzt hörte man deutlich die ausgelassenen Nestbauer im Gebüsch und das Klappern von Geschirr drinnen im Speisesaal.
»Guten Appetit«, sagte er und setzte sich unaufgefordert an den Tisch des Heimleiters. »Ich bin gekommen, um Sie etwas zu fragen. Und zwar möchte ich wissen, ob Sie Kenntnis davon haben, dass Uffe Lynggaard einmal spielerisch den
Weitere Kostenlose Bücher