Erbarmen
»Rauchen ist schädlich - für dich und deine Umgebung« stand auf der Packung. Er sah sich um. Damit würden die paar Kellerasseln hier unten sicher auch noch fertig werden. Er zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Es hatte ja doch was, Chef seiner eigenen Abteilung zu sein.
»Wir schicken dir die Fälle nach unten«, hatte Marcus Jacobsen gesagt. Bisher herrschte gähnende Leere auf dem Schreibtisch und in den Regalen. Vielleicht war man der Meinung, er solle sich in den Räumlichkeiten erst mal häuslich einrichten. Aber Carl war es egal, da war nichts, was er erst ordnen musste, ehe der Geist über ihn kam.
Er schob den Bürostuhl seitlich an den Schreibtisch und legte die Beine über die Ecke der Tischplatte. So hatte er in den Wochen, als er krankgeschrieben war, die meiste Zeit zu Hause gesessen. Zuerst hatte er einfach nur in die Luft gestarrt. Hatte seine Zigaretten geraucht und versucht, nicht an das Gewicht von Hardys schwerem Körper auf seinem zu denken und an Ankers Röcheln in den Sekunden, bevor er starb. Dann war er im Internet herumgesurft. Ohne Ziel, ohne Plan, nur so, um sich zu betäuben. Das konnte er doch jetzt gut fortsetzen. Er sah auf die Uhr. Nur noch fünf Stunden musste er absitzen, bevor er wieder nach Hause gehen konnte.
Carl wohnte in Allerød; seine Frau hatte das so gewollt. Hierher waren sie gezogen, zwei Jahre ehe sie ihn verließ und in ein Gartenhaus in Islev einzog. Damals hatte sie eine Karte von der Insel Seeland auf dem Tisch ausgebreitet. Sie hatte sich schnell ausgerechnet, dass man, wenn man alles wollte, Geld auf den Tisch legen musste. Oder man zog eben nach Allerød. Nette kleine Stadt, S-Bahn-Anschluss, ringsum Felder, der Wald in Laufnähe, viele schöne Geschäfte, Kino, Theater, Vereinsleben. Und obendrein gab es noch den Rønneholtpark. Seine Frau war Feuer und Flamme. In dieser Anlage konnten sie für einen annehmbaren Preis ein Reihenhaus aus solidem Beton kaufen, das genug Platz für sie beide bot - und für Viggas Sohn. Als Zugabe hatten sie auch noch das Nutzungsrecht für den Tennisplatz, ein Hallenbad und das Gemeinschaftshaus sowie die Getreidefelder und das Moor in nächster Nähe. Und es gab obendrein eine Menge netter Nachbarn. Denn im Rønneholtpark interessierten sich die Menschen füreinander, hatte sie gelesen. Damals war das für Carl nicht unbedingt ein Vorzug gewesen, aber das hatte sich in der Zwischenzeit geändert. Ohne die Freunde im Rønneholtpark wäre Carl vor die Hunde gegangen. Ganz buchstäblich. Erst war ihm die Frau weggelaufen. Dann wollte sie sich aber nicht scheiden lassen, sondern blieb in der Laube wohnen. Über ihre zahlreichen und meist deutlich jüngeren Liebhaber pflegte sie ihn gern telefonisch auf dem Laufenden zu halten. Als ihr Sohn sich irgendwann weigerte, weiter mit ihr zusammenzuwohnen, zog er zurück zu Carl ins Haus - ausgerechnet in der heißesten Phase der Pubertät. Und schließlich dann die Schießerei auf Amager, die Carl endgültig aus der Bahn zu werfen drohte. Plötzlich war alles dahin, woran Carl sich immer gehalten hatte: seine Frau, ein solider Lebensinhalt und zwei gute Kollegen, denen es scheißegal war, mit welchem Bein er morgens zuerst aufgestanden war. Nein, ohne den Rønneholtpark und die Menschen dort hätte er all das wohl nicht überstanden.
Als Carl nach Hause kam, schob er sein Fahrrad in den Schuppen vor der Küche. Dass seine beiden Mitbewohner da waren, ließ sich nicht überhören. Aus dem Souterrain seines Mieters Morten Holland dröhnten Opernarien, darübergelegt der dumpfe Heavy-Metal-Sound seines Ziehsohns, der ihm aus dem Zimmer im ersten Stock entgegendonnerte.
Er drang ein in dieses akustische Inferno, stampfte ein paarmal auf den Boden, und der >Rigoletto< unten im Keller wurde auf der Stelle in Watte gepackt. Dem Heavy-Metal-Sound im ersten Stock war da nicht so leicht beizukommen. Carl nahm die Treppe mit drei Sprüngen. Oben machte er sich gar nicht erst die Mühe anzuklopfen.
»Jesper! Dein Nervenklinik-Sound hat unten im Pinienweg zwei Fensterscheiben eingedrückt. Kannst du gern selbst bezahlen«, brüllte er ohne die geringste Aussicht auf eine Reaktion. »Hallo!«, schrie ihm Carl daraufhin direkt ins Ohr. »Ich würde nur ungern den DSL-Anschluss kappen.«
Das half.
Unten in der Küche hatte Morten Holland schon den Tisch gedeckt. Ein Nachbar in der Straße hatte ihn mal die Ersatzhausfrau von Nummer 73 genannt, aber er hatte sich geirrt.
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