Erbarmen
hinauf, wirbelte herum und stürzte abwärts, verschwand dann in einer Öffnung an der Seite des Schiffes. Als sie schon glaubte, sie müssten nun zum tiefer liegenden Deck laufen, um den Brief dort aufzulesen, war er plötzlich wieder da und wirbelte kurz auf, dann sank er und tanzte über den Wellen, machte noch eine letzte Umdrehung und verschwand im weißen Schaum. Uffe lachte. Er hatte den Weg des Umschlags die ganze Zeit verfolgt. Plötzlich kreischte er, nahm seine Baseballkappe und warf sie dem Brief hinterher.
»Halt!«, war alles, was sie noch rufen konnte, ehe die Kappe im Meer versank.
Er hatte sie zu Weihnachten bekommen und liebte sie über alles. In dem Moment, als sie verschwunden war, bereute er es. Ganz offensichtlich wollte er hinterherspringen, um sie zurückzuholen.
»Nein, Uffe!«, rief sie. »Das geht nicht, sie ist weg!« Aber Uffe hatte schon einen Fuß auf die metallene Barriere an der Reling gestellt. So stand er da und schwankte und brüllte über das Holzgeländer, und der Schwerpunkt seines Körpers war viel zu weit oben.
»Halt, Uffe, halt, das geht nicht!«, rief sie wieder, aber Uffe war stark, viel stärker als sie, und Uffe war weit weg. Sein Bewusstsein lag unten in den Wellen bei der Baseballkappe, die er zu Weihnachten bekommen hatte. Eine Reliquie in seinem einfachen, gottlosen Leben.
Da schlug sie ihm hart ins Gesicht. Das hatte sie noch nie getan. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und bereute es auf der Stelle. Uffe verstand gar nichts mehr. Augenblicklich hatte er die Kappe vergessen und griff sich an die Wange. Er stand unter Schock. Viele Jahre lang hatte er nie einen solchen Schmerz gespürt. Er verstand das alles nicht. Er sah sie an und schlug zurück. Schlug sie wie nie zuvor.
Kap 12 - 2007
In der letzten Nacht hatte der Chef der Mordkommission schon wieder nicht viel Schlaf bekommen.
Die Zeugin im Fahrradmord im Valbypark hatte versucht, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen. Was um alles in der Welt sie so weit hatte bringen können, begriff er nicht. Sie hatte doch Kinder und eine Mutter, die sie liebte! Wer oder was konnte eine Frau dermaßen unter Druck setzen? Sie boten ihr Zeugenschutz und alles, was dazugehörte. Sie war Tag und Nacht unter Überwachung. Wie war sie überhaupt an die Schlaftabletten gekommen?
»Du solltest heimfahren und dich ein bisschen ausruhen«, sagte sein Stellvertreter, als Marcus Jacobsen von seiner üblichen Freitags-Dienstbesprechung mit dem Chefinspektor im Präsidium zurückkam.
Er nickte. »Ja, vielleicht wenigstens zwei Stunden. Dann musst du aber zusammen mit Bak ins Rigshospital fahren. Versucht, etwas aus der Frau herauszubekommen. Und sorgt dafür, dass ihre Mutter und ihre Kinder mitkommen, damit sie alle sieht. Wir müssen alles versuchen, um sie in die Realität zurückzuholen.«
»Ja. Oder davon weg«, meinte Lars Bjørn lakonisch.
Das Telefon war umgestellt, aber nun klingelte es trotzdem. »Nur die Königin und Prinz Henrik dürfen durchgestellt werden«, hatte er zur Sekretärin gesagt. Dann war es wohl seine Frau.
»Der Polizeipräsident«, flüsterte Lars Bjørn mit der Hand über dem Hörer. Er reichte ihn an Marcus weiter und schlich sich aus dem Raum.
»Ja«, meldete sich der Chef der Mordkommission und fühlte sich noch müder, als er die Stimme am anderen Ende hörte.
»Ja, also Marcus.« Diese Stimme war nicht zu verkennen. »Ich rufe an, um dir zu sagen, dass der Justizminister und die Kommissionen schnell gearbeitet haben. Die zusätzliche Bewilligung ist durch!«
»Das sind ja gute Nachrichten«, antwortete Marcus und versuchte sich vorzustellen, wie man das Budget aufteilen könnte.
»Ja, also heute waren Piv Vestergård und der Rechtsausschuss der Dänemarkpartei zur Besprechung im Justizministerium. Nun kommt die Sache in Schwung. Der Dienstweg ist dir ja bekannt, und ich wurde nun gebeten, dich zu fragen, ob mit der neuen Abteilung alles nach Plan läuft.«
Doch, das denke ich schon«, sagte er und hatte prompt Carls müdes Gesicht vor Augen.
»Gut, sehr gut. Das werde ich weitergeben. Und mit welchem Fall werdet ihr anfangen?«
Das war nicht direkt eine Frage, die seine Lebensgeister weckte.
Carl hatte sich gerade innerlich darauf eingestellt, den Heimweg anzutreten. Die Wanduhr zeigte 16:06, aber nach seiner inneren Uhr war es schon etliche Stunden später. Deshalb machte ihm Marcus Jacobsen mit seinem Anruf, mit dem er seinen Besuch ankündigte, wirklich
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