Erbarmen
wieder vor ihm. Carl hatte in der Zwischenzeit an Hardy gedacht. Hardy hatte ihn, Carl, ernsthaft gebeten, ihn umzubringen. Wie könnte er so etwas tun? Was dachte Hardy sich eigentlich dabei?
Assad legte eine der Mappen vor ihn. »Hier ist der einzige Fall, an den ich mich selbst erinnere. Das passierte zu der Zeit, als ich zum Dänischkurs ging, deshalb lasen wir davon in den Zeitungen. Der war sehr interessant, fand ich damals. Ja, und jetzt auch noch.«
Er reichte Carl die Mappe, der einen Blick darauf warf. »Also bist du 2002 nach Dänemark gekommen?«
»Nein, das war '98. Aber ich bin 2002 zum Dänischkurs gegangen. Hast du an dem Fall mitgearbeitet?«
»Nein, das war ein Fall der Mobilen Einsatztruppe vor den Umstrukturierungen.«
»Und die Mobile Einsatztruppe hat das übernommen, weil es draußen auf See passiert ist?«
»Nein, das war ...« Er betrachtete Assads aufmerksames Gesicht mit den tanzenden Augenbrauen. »Ja, stimmt«, korrigierte er sich. Warum sollte er Assad mit Hintergrundwissen über Abläufe und Zuständigkeiten bei der Polizei belästigen.
»Die Merete Lynggaard war eine tolle Frau, finde ich.« Assad lächelte verschmitzt.
»Toll?« Carl sah die gut aussehende, vitale Politikerin vor sich. »Ja, das war sie mit Sicherheit.«
Kap 11 - 2002
Einige Tage lang häuften sich die privaten Nachrichten, die für sie eintrafen. Meretes Assistentin gab sich Mühe, ihren Ärger zu verbergen, und spielte die Freundliche. Wann immer sie sich unbeobachtet glaubte, betrachtete sie Merete. Einmal fragte sie, ob Merete Lust hätte, am Wochenende mit ihr Squash zu spielen, aber die wehrte den Vorschlag ab. Sie wollte zwischen sich und den Angestellten einfach diese professionelle Distanz wahren.
Danach gab sich die Assistentin wieder verschlossen und distanziert.
Die letzten Nachrichten, die ihr die Assistentin am Freitag auf den Schreibtisch legte, nahm Merete mit nach Hause. Nachdem sie sie wiederholt durchgelesen hatte, warf sie alles in den Abfall. Danach verschnürte sie die Mülltüte und brachte sie nach draußen in die Mülltonne.
Sie fühlte sich erbärmlich und gemein.
Die Familienhelferin hatte einen Auflauf vorbereitet. Er war sogar noch warm, als sie und Uffe mit ihrer Runde durchs Haus fertig waren. Neben der feuerfesten Form lag auf einem Umschlag ein Zettel.
Oh nein, jetzt kündigt sie, dachte Merete und las den Zettel.
Ein Mann war hier und hat den Umschlag abgegeben. Das hat wohl etwas mit dem Ministerium zu tun,
stand dort geschrieben.
Merete riss das Kuvert auf.
Da stand nur:
Gute Reise nach Berlin.
Neben ihr saß Uffe vor seinem leeren Teller und lächelte erwartungsvoll. Während sie ihm auftat, presste sie die Lippen zusammen und bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken.
Der Ostwind hatte zugenommen. Die Wellen trugen Schaumkronen und schlugen hoch hinauf an die Seiten des Schiffes.
Uffe liebte den Platz auf dem Sonnendeck. Er stand breitbeinig dort und sah zu, wie sich die Wellen am Schiff brachen und wie sich die Möwen über ihnen mit ausgebreiteten Flügeln vom Wind tragen ließen. Und Merete war glücklich, wenn Uffe fröhlich war. Es war gut, dass sie trotzdem losgefahren waren. Berlin war ja so eine phantastische Stadt.
Weiter hinten an Deck stand ein älteres Paar und sah ihnen zu. An einem der Tische dicht am Schornstein saß eine Familie und machte Picknick. Sie hatten eine Thermoskanne ausgepackt und Brote mitgebracht. Die Kinder waren schon fertig, und Merete lächelte ihnen zu. Der Vater schaute auf die Uhr und sagte etwas zu seiner Frau. Dann begannen sie zusammenzupacken.
Sie erinnerte sich gut an solche Ausflüge mit den Eltern. Das war nun schon sehr lange her. Sie drehte sich um. Viele der Passagiere brachen auf und gingen hinunter zum Fahrzeugdeck. Sie würden schon bald in Puttgarden ankommen, nur noch zehn Minuten. Aber nicht alle hatten es eilig. Auf dem Deck unter ihnen standen an den Panoramascheiben zwei Typen, die ihre Schals bis über das Kinn hochgezogen hatten. Sie blickten ruhig über das Meer. Der eine wirkte sehr mager und entkräftet. Merete fiel auf, dass zwischen ihnen zwei Meter Platz war, also gehörten sie wohl nicht zusammen, überlegte sie.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog sie den Brief aus der Tasche und las die vier Worte noch einmal. Dann steckte sie den Brief wieder in den Umschlag und hob ihn hoch in die Luft. Einen Moment lang flatterte er im Wind, dann ließ sie los. Er flog
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