Erbarmen
fotografiert hatten, gab es eine Liste mitsamt Adressen. Ja, es gab sogar eine Kopie aus dem Logbuch der Scandline- Fähre, woraus hervorging, wie der Kapitän damals auf die Geschichte reagiert hatte. Allerdings fand sich zwischen all dem Material nichts, was Carl weiterbringen konnte.
Ich muss unbedingt diese Videos anschauen, dachte er und sah resigniert zu seinem DVD-Player.
»Assad, ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte er, als dieser mit einem dampfenden Becher Kaffee zurückkam. »Geh nach oben zur Mordkommission im zweiten Stock. Durch die grüne Tür und die roten Gänge entlang bis zu einer Ablage, wo ...«
Assad überreichte ihm den Kaffee, der schon von weitem nach heftigen Magenproblemen duftete. »Ablage?«, sagte er und runzelte die Stirn.
»Ja, du weißt schon. Da, wo der rate Gang etwas breiter wird. Geh zu einer blonden Frau. Sie heißt Lis. Sie ist klasse. Sag ihr, dass Carl Mørck unten ein Videogerät braucht. Wir sind gute Freunde, sie und ich.« Er zwinkerte Assad zu, und der zwinkerte zurück.
»Und wenn nur die Dunkelhaarige da ist, dann kommst du einfach zurück.«
Assad nickte.
»Ach ja, denk dran, dass du einen Scartstick mitbringst«, rief er Assad nach, als der den neonbeleuchteten Kellerflur hinunterschlurfte.
»Da oben war nur die Dunkelhaarige«, sagte er, als er zurückkam. »Sie hat mir zwei Videogeräte gegeben und gesagt, dass sie sie nicht wiederhaben wollen.« Er lächelte breit. »Sie ist auch hübsch.«
Carl schüttelte den Kopf. Dann musste es noch einen Personalwechsel gegeben haben.
Das erste Video war eine Nachrichtenaufzeichnung vom 20. Dezember 2001. Merete Lynggaard kommentierte eine informelle Gesundheits- und Klimakonferenz in London, an der sie teilgenommen hatte. Das Interview handelte in erster Linie von ihren Beratungen mit einem gewissen Senator Bruce Jansen über die amerikanische Haltung zur Arbeit der WHO und zum Kioto- Protokoll, was ihrer Meinung nach Anlass zu großem Optimismus für die Zukunft gab. Lässt sie sich etwa leicht hinters Licht führen?, dachte Carl. Aber abgesehen von dieser bestimmt altersbedingten Naivität trat Merete Lynggaard nüchtern und sachlich auf, äußerte sich präzise und überstrahlte den neu ernannten Innen- und Gesundheitsminister, der neben ihr stand und eher wie die Parodie eines Studienrats in einem Film aus den Sechzigern wirkte.
»Eine richtig tolle und schöne Frau«, kommentierte Assad von der Tür aus.
Das zweite Video war vom 21. Februar 2002. Merete Lynggaard kommentierte darin im Namen des umweltpolitischen Sprechers ihrer Partei die Kritik des selbst ernannten Umweltskeptikers Bjarke Ørnfeldts an den »Ausschüssen betreffend wissenschaftlicher Unredlichkeit«.
Wie kann man einem Ausschuss so einen Namen geben, dachte Carl. Dass in Dänemark etwas so kafkaesk klingen konnte.
Diesmal stand da ein ganz anderer Typ Merete Lynggaard am Rednerpult. Geistesgegenwärtiger, weniger Politiker.
»Da ist sie wirklich, wirklich so hübsch«, sagte Assad.
Carl sah ihn an. Das Aussehen einer Frau spielte im Leben dieses Mannes offenbar eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Aber Carl musste Assad recht geben. Bei diesem Interview umgab die Frau eine ganz besondere Aura. Unmengen dieses unwahrscheinlich starken Appeals, den fast alle Frauen auf die Umgebung auszuströmen imstande sind, wenn es ihnen sehr, sehr gut geht. Sehr vielsagend. Aber auch sehr verwirrend.
»War sie denn schwanger?«, fragte Assad. Der Anzahl der Familienmitglieder auf den Fotos nach zu urteilen, war das ein weiblicher Zustand, mit dem er einige Erfahrung hatte.
Carl nahm sich eine Zigarette und blätterte die Akte noch einmal durch. Einen Obduktionsbericht gab es naturgemäß nicht, schließlich war die Leiche nie gefunden worden. Und wenn er die Artikel der Klatschspalten überflog, wurde dort mehr als nur angedeutet, dass sie nichts für Männer übrig hatte - auch wenn das natürlich eine Schwangerschaft nicht vollständig ausschließen konnte. Und wenn er ganz genau hinschaute, dann war sie tatsächlich nie in näherem Kontakt mit jemandem gesehen worden, weder Mann noch Frau.
»Sie war wohl einfach nur verliebt«, konstatierte Assad schließlich und wedelte den Zigarettenrauch mit der Hand weg. Er war jetzt so nahe herangekommen, als wollte er in den Bildschirm kriechen.
Carl schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es hatte an dem Tag nur zwei Grad. Interviews im Freien lassen Politiker gesünder aussehen, Assad, warum sonst
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