Erbarmen
eine Spur, bei der du ansetzen willst?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist, ich muss ihn also erst mal finden. Aber da sind auch noch andere Details, die ins Auge fallen.«
»Steht nicht in den Akten, er sei in einer Institution in Nordseeland untergebracht?«, meinte Marcus Jabobsen.
»Ja, das schon. Aber womöglich ist er da gar nicht mehr.« Carl bemühte sich, nachdenklich auszusehen. Nun geh doch endlich zurück in dein Büro, Herr Chef der Mordkommission Jacobsen, dachte er. Lauter Fragen, und er hatte doch gerade mal fünf Minuten in den Akten lesen können, mehr war in der Kürze der Zeit nicht drin gewesen.
»Das heißt Egely, wo er ist. In Frederikssund Stadt.« Die Stimme kam von der Tür. Dort stand Assad und stützte sich auf seinen Besen. Mit seinem Elfenbeinlächeln, den grünen Gummihandschuhen und einem Kittel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte, sah er aus, als käme er von einem anderen Stern.
Der Chef der Mordkommission betrachtete verwirrt das exotische Wesen.
»Hafez el-Assad«, stellte er sich vor und reichte ihm eine Hand im grünen Handschuh.
»Marcus Jacobsen«, sagte der Chef der Mordkommission und schüttelte seine Hand. Dann drehte er sich fragend zu Carl um. »Das ist hier unten unsere neue Hilfskraft. Assad hat gehört, wie ich über den Fall sprach«, erklärte Carl und warf Assad einen bösen Blick zu, der an diesem jedoch einfach abprallte. »Aha«, sagte der Chef der Mordkommission.
»Ja, mein Vizepolizeikommissar Mørck hat echt hart gearbeitet. Ich habe ihm hier und da ein bisschen geholfen, was man so kann.« Er lächelte breit. »Was ich aber nicht verstehe: Warum fand man Merete Lynggaard nie im Meer. In Syrien, wo ich herkomme, gibt es massenweise Hale im Wasser. Die fressen die Leichen. Aber wenn es hier im Meer bei Dänemark nicht so viele Hale gibt, dann müsste man sie irgendwann finden. Die Leichen werden doch zu Ballons, innen verrottet alles und der Körper dehnt sich aus.«
Der Chef der Mordkommission versuchte ein Lächeln. »Ja, schon. Aber das Meer rings um Dänemark ist groß und tief. Es passiert gar nicht so selten, dass wir Ertrunkene nicht finden. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen von den Passagierschiffen fallen und niemals gefunden werden.«
»Assad.« Carl sah auf die Uhr. »Du kannst jetzt nach Hause gehen. Bis morgen.«
Assad nickte und nahm den Eimer. Am Ende des Flurs rumorte und schepperte es kurz, dann tauchte Assads Gesicht wieder in der Türöffnung auf, und er verabschiedete sich.
»Das ist ja eine Type, dieser Hafez el-Assad«, sagte Marcus Jacobsen, als die Schritte verklungen waren.
Kap 13 - 2007
Nach dem Wochenende war auf Carls Computer von Lars Bjørn ein Memo hinterlegt.
Er schrieb:
Ich habe Bak darüber informiert, dass du den Fall Merete Lynggaard wieder aufrollen willst. Bak war mit der Mobilen Einsatztruppe in der Abschlussphase der Ermittlungen an der Sache dran, er weiß also einiges. Derzeit schuftet er im Fall des Fahrradmordes, ist aber darauf eingerichtet, mit dir zu reden, am besten schnellstmöglich.
Unterschrieben: Lars Bjørn.
Carl schnaubte. Am besten schnellstmöglich. Was bildete Bak, dieser heilige Frederik, sich eigentlich ein? Selbstgerecht und geltungssüchtig war er. Und viel zu wichtig nahm er sich sowieso. Bürokrat und Musterknabe. Seine Frau musste bestimmt ein Formular in dreifacher Ausfertigung einreichen, bevor sie Ansprüche auf exotische Zärtlichkeiten unterhalb der Gürtellinie geltend machen konnte.
Aber Bak hatte also in einem Fall ermittelt, der
nicht
gelöst wurde. Das war doch was. Man fühlte sich fast verpflichtet, das für ihn zu übernehmen.
Er nahm die Akte vom Tisch und bat Assad, ihm eine Tasse Kaffee zu kochen. »Aber bitte nicht so stark wie gestern«, sagte er und dachte an die Entfernung zu den Toiletten.
Die Akte Lynggaard war wohl die umfangreichste, die Carl je gesehen hatte. Alles fand sich darin. Berichte über den Zustand des Bruders Uffe, Abschriften von Verhören, Zeitungsausschnitte - aus seriösen Zeitungen genauso wie aus Klatschblättern, Videoaufnahmen mit Interviews von Merete Lynggaard, Abschriften detaillierter Zeugenaussagen von Kollegen und von Mitreisenden auf der Fähre, die damals die Geschwister an Deck gesehen hatten. Es gab Fotos von dem Sonnendeck und von der Reling und vom Abstand bis zur Meeresoberfläche. Man hatte dort, wo sie verschwunden war, Fingerabdrücke genommen. Von den Passagieren, die an Bord der Fähre
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