Erbarmen
Stelle, von der sie meinte, dass darüber der Lautsprecher sein müsse. »Wie lange bin ich schon hier?« Sie sprach ein bisschen lauter. »Was haben Sie mit mir vor?«
»Im Essensbehälter liegt Toilettenpapier. In einer Woche bekommst du eine neue Rolle. Wenn du dich waschen musst, nimm Wasser aus dem Kanister, der im Toiletteneimer steht. Denk also daran, den zuerst herauszunehmen. Im Raum gibt es keinen Abfluss, achte also darauf, dich über dem Eimer zu waschen.«
Die Sehnen an ihrem Hals spannten sich. Ein Hauch von Zorn kämpfte mit den Tränen, und ihre Lippen bebten. Aus ihrer Nase lief Flüssigkeit. »Muss ich denn hier im Dunkeln sitzen ... immerzu?«, schluchzte sie. »Können Sie nicht das Licht anmachen? Nur einen Augenblick. Bitte!«
Wieder war ein Klicken zu hören, und ein kleiner Lufthauch zog über sie hinweg. Dann war die Schleuse geschlossen.
Es folgten zahllose Tage und Nächte, in denen sie nicht mehr hörte als das Gebläse bei der wöchentlichen Lufterneuerung und das tägliche Rasseln und Pfeifen der Schleusentür. Manches Mal kamen ihr die Abstände unendlich vor, dann wieder, als habe sie sich nach der Mahlzeit gerade erst zum Schlafen gelegt, als die nächsten beiden Eimer kamen. Das Essen war der einzige konkrete Hoffnungsschimmer, obwohl es immer dasselbe war und fast nach nichts schmeckte. Kartoffeln, weichgekochtes Gemüse und etwas Fleisch. Jeden Tag das gleiche. Als gäbe es irgendwo einen unerschöpflichen Topf von diesem Mischmasch, der da vor sich hin köchelte - dort draußen im Licht der Welt auf der anderen Seite der undurchdringlichen Wand.
Sie hatte geglaubt, sie würde sich irgendwann so sehr an die Dunkelheit gewöhnt haben, dass die Details des Raums stärker für sie hervorträten. Aber so war es nicht. Die Dunkelheit war absolut, fast so, als wäre sie blind. Nur die Gedanken vermochten Licht in ihr Dasein zu bringen, und auch das war nicht leicht.
Immer wieder fürchtete sie, verrückt zu werden. Sie hatte große Angst vor dem Tag, an dem ihr zum ersten Mal die Kontrolle entgleiten würde. Und sie erfand Bilder von der Welt und dem Licht und dem Leben da draußen. Sie flüchtete sich in die entferntesten Winkel ihres Gehirns, die im alltäglichen Treiben der Menschen meist versandeten. Und langsam kamen die Erinnerungen an die Vergangenheit zurück. Kurze Augenblicke von Händen, die sie umfasst hielten. Worte, die streichelten und trösteten. Aber auch Erinnerungen an Einsamkeit und Sehnsucht und Verlust und unermüdliches Streben.
So verfiel sie in einen Rhythmus, der aus langen Perioden des Schlafens bestand, aus Essen, Meditation und Auf-der-Stelle-Laufen. Sie lief, bis das Klatschen der Sohlen auf den Boden ihr in den Ohren schmerzte oder sie vor Müdigkeit umfiel.
Jeden fünften Tag bekam sie frische Unterwäsche und warf die gebrauchte in das Trockenklo. Der Gedanke, dass Fremde ihre Wäsche berührten, erfüllte sie mit Ekel. Aber die übrige Kleidung, die sie trug, wurde nicht ersetzt. Deshalb achtete sie peinlich genau darauf. Passte auf, wenn sie sich auf den Eimer setzte. Legte sich zum Schlafen vorsichtig auf den Boden. Wenn sie die Unterwäsche wechselte, strich sie alles behutsam glatt, und reinigte die Teile mit sauberem Wasser, bei denen sie fühlen konnte, dass sie speckig geworden waren. Sie war froh, dass sie gute Kleidung getragen hatte an jenem Tag, als man sie entführte. Eine Daunenjacke, Schal, Bluse, Unterhemd, Hose und dicke Socken. Aber mit der Zeit hingen ihr die Hosen immer lockerer um die Hüften, und die Schuhsohlen wurden allmählich dünn. Ich muss barfuß laufen, dachte sie und rief ins Dunkel: »Können Sie es bitte etwas wärmer machen?« Aber die Ventilation an der Decke hatte schon seit langem keinen Ton mehr von sich gegeben.
Als die Eimer zum einhundertneunzehnten Mal ausgetauscht wurden, ging plötzlich das Licht an. Eine Explosion aus weißer Sonne knallte ihr entgegen und ließ sie mit fest zusammengekniffenen Augen rückwärts taumeln. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Es war ein Gefühl, als bombardierte das Licht ihre Netzhaut. Schmerzimpulse wurden in Wellen ins Gehirn gesandt. Sie konnte nichts anderes tun, als auf die Knie zu sinken und sich die Augen zuzuhalten.
In den darauffolgenden Stunden begann sie, langsam den Griff um ihr Gesicht zu lockern und die Augen ein bisschen zu öffnen. Das Licht war noch immer überwältigend. Die Angst, ihr Augenlicht längst eingebüßt zu haben oder es jetzt
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