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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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fragen, was der Mörder so macht. Nicht wer er ist, sondern was er macht.«
    »Das haben wir natürlich schon getan, aber sie sagt nichts. Du meinst, es könnte sich um ein Arbeitsverhältnis handeln?«
    »Vielleicht, vielleicht nicht. Auf jeden Fall ist sie kraft seiner Arbeit von dem Mann abhängig.«
    Jacobsen nickte. Erst wenn die Zeugin und ihre Familie an einem sicheren Ort untergebracht waren, würden sie sie erneut befragen.
    Immerhin: Carl hatte diese Mona Ibsen zu Gesicht bekommen. Verdammt tolle Frau für eine Psychologin.
    »Das war' s schon«, sagte er und lächelte so breit und entspannt und viril wie noch nie, aber es kam kein Echo.
    Er fasste sich unwillkürlich an die Brust, es tat auf einmal direkt unter dem Brustbein weh. Verdammt unangenehmes Gefühl. Fast so, als hätte er Luft verschluckt.
    »Carl, bist du okay?«, fragte sein Chef.
    »Ja klar. Die letzten Nachwehen, du weißt schon. Ich bin okay.« Aber das stimmte nicht wirklich. Das Gefühl im Brustkorb war alles andere als gut.
    »Ja, Mona, entschuldige. Darf ich dir Carl Mørck vorstellen? Du weißt doch! Vor einigen Monaten geriet er in diese Schießerei, bei der wir einen Kollegen verloren.«
    Sie nickte ihm zu, während er sich gewaltig zusammenriss.
    Professionelles Interesse, natürlich. Aber besser als nichts.
    »Carl, das ist Mona Ibsen. Sie ist unsere neue Krisenpsychologin. Vielleicht lernt ihr euch ja kennen. Wir würden uns sehr freuen, wenn einer unserer besten Kollegen bald wieder vollständig auf dem Posten wäre.«
    Er ging einen Schritt auf sie zu und ergriff ihre Hand. Sich kennenlernen. Darauf kannst du wetten.
    Das Gefühl in seinem Brustkorb war immer noch da, als er auf dem Weg in den Keller mit Assad zusammenstieß.
    »Ich bin durch, Carl«, sagte er.
    Carl bemühte sich, Mona Ibsens Bild zu verdrängen. Was nicht ganz leicht war.
    »Womit?«, fragte er.
    »Ich habe mindestens zehnmal bei TelegramsOnline angerufen und bin erst vor einer Viertelstunde durchgekommen«, sagte Assad, und Carl erinnerte sich wieder. »Vielleicht können sie uns bald sagen, wer Merete Lynggaard das Telegramm geschickt hat. Jedenfalls versuchen sie, es herauszufinden.«
     

Kap 18 - 2002
     
    Schon nach kurzer Zeit hatte Merete sich an den Druck gewöhnt. Einige Tage ein leichtes Sausen in den Ohren, dann war es verschwunden. Nein, nicht der Druck war das Schlimmste.
    Es war das Licht über ihr.
    Ewiges Licht war hundertmal grausamer als ewige Dunkelheit. Das Licht legte schonungslos die Erbärmlichkeit ihres Lebens bloß. Ein eisig weißer Raum. Gräuliche Wände, scharfe Ecken. Die grauen Eimer, das farblose Essen. Das Licht brachte ihr die Hässlichkeit und die Kälte. Das Licht brachte ihr die endgültige Erkenntnis, dass sie diesen Panzer von einem Raum niemals würde verlassen können, dass auch die Schleuse unmöglich ein Fluchtweg war, dass diese Betonhölle ihr Sarg und ihr Grab war. Jetzt konnte sie nicht mehr einfach die Augen schließen und wegdämmern, wenn ihr danach war. Das Licht bedrängte sie, es zwängte sich noch durch die geschlossenen Augen. Nur wenn die Erschöpfung sie vollständig übermannte, konnte sie einschlafen.
    Und die Zeit dehnte sich ins Unendliche.
    Jeden Tag, wenn sie mit dem Essen fertig war und ihre Finger sauber geleckt hatte, starrte sie vor sich hin und rekapitulierte den Tag. »Heute ist der 27. Juli 2002. Ich bin zweiunddreißig Jahre und einundzwanzig Tage alt. Hier bin ich jetzt seit einhundertsiebenundvierzig Tagen. Ich heiße Merete Lynggaard, und mir geht es gut. Mein Bruder heißt Uffe, und er wurde am 10. Mai 1973 geboren«, so begann sie. Manchmal zählte sie auch die Namen ihrer Eltern und anderer Menschen auf. Sie dachte an jedem einzelnen Tag an sie. An sie und an viele andere Menschen und Dinge. Sie erinnerte sich an klare Morgenluft, an den Geruch anderer Menschen, an das Bellen eines Hundes. Diese Gedanken führten immer weiter, zu anderen Gedanken und führten sie hinaus aus diesem kalten Raum.
    Früher oder später würde sie verrückt werden, das war ihr bewusst. Aber dann würde sie auch von den dunklen Gedanken wegkommen, den immer wiederkehrenden. Gegen die sie so hart ankämpfte. Noch war sie nicht bereit.
    Deshalb hielt sie sich von den meterhohen Bullaugen fern, zu denen sie sich in der ersten Zeit vorgetastet hatte. Sie befanden sich etwa in Augenhöhe, und durch das verspiegelte Glas drang nichts von außen herein. Als Merete sich nach einigen Tagen an das Licht gewöhnt

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