Erbarmen
Sie hat die ganze Zeit Informationen zurückgehalten, zeigte sich dann aber doch auf ihre Weise kooperativ. Sie hat uns immer wieder mal Hinweise gegeben, aufgrund derer wir mit den Ermittlungen weiterkommen konnten. Allerdings hat sie uns entscheidende Informationen vorenthalten. Und seit sie diese Drohungen erhält, hat sie vollständig dichtgemacht.
Ich fasse zusammen: Etwa um zweiundzwanzig Uhr wurde dem Opfer im Valbypark der Hals durchgeschnitten. Es ist dunkel und kalt und der Park menschenleer. Dennoch sieht Annelise Kvist, wie der Täter nur wenige Minuten vor dem Mord mit dem späteren Opfer zusammensteht und redet. Deshalb sind wir der Meinung, dass wir von einem Mord im Affekt ausgehen müssen. Wäre der Mord kaltblütig geplant gewesen, hätte Annelise Kvists Ankunft die Tat aller Wahrscheinlichkeit nach vereitelt.«
»Aber warum
geht
Annelise Kvist durch den Park? Hatte sie denn nicht ihr Fahrrad dabei? Woher kam sie überhaupt?« Es war einer von den Neuen, der diese Zwischenfrage stellte. Er wusste noch nicht, dass man erst fragte, wenn Bak fertig war.
Bak war sauer, das sah man an dem Blick, mit dem er den Einwurf quittierte. »Sie war bei einer Freundin, und das Fahrrad hatte einen Platten. Wir wissen, dass es der Täter gewesen sein muss, den sie sah, weil sich am Tatort zwei verschiedene Fußabdrücke fanden. Wir haben die Lebensverhältnisse von Annelise Kvist äußerst sorgfältig überprüft, um eventuelle Schwachstellen in ihrem Leben zu finden. Etwas, das ihr Verhalten erklärt, als wir begannen, sie zu verhören. Daher wissen wir jetzt, dass sie eine Zeitlang im Rockermilieu verkehrte, aber wir wissen auch mit ziemlicher Sicherheit, dass das nicht das Milieu ist, in dem wir den Täter finden werden.
Der Bruder des Opfers ist Carlo Brandt, einer der aktivsten Rocker im Raum Valby. Das Opfer selbst war unbescholten, auch wenn der Mann nebenbei auf eigene Rechnung mit Drogen handelte. Durch diesen Carlo Brandt wissen wir inzwischen auch, dass das Opfer ein Bekannter von Annelise Kvist war, irgendwann einmal war es wohl sogar eine intime Beziehung. In der Richtung ermitteln wir ebenfalls. Auf alle Fälle lässt sich daraus schließen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach beide kannte, Opfer und Täter.
Von ihrer Mutter wissen wir, dass Annelise früher schon Opfer von Gewalt war; sie war offenbar immer mal wieder Schlägen und Drohungen ausgesetzt. Die Mutter findet allerdings, ihre Tochter sei selbst schuld daran. Sie treibe sich eben viel in Kneipen herum und achte nicht so genau darauf, mit wem sie nach Hause geht. Aber so seien sie heute doch alle, diese jungen Frauen.
Jetzt haben wir das halbe Ohr des Opfers in Annelises Toilette gefunden, daher wissen wir, dass der Mörder sie kennt. Sie und ihre Wohnung. Aber wer dieser Mann ist, das haben wir eben noch immer nicht aus ihr herausbekommen.
Die Kinder sind jetzt bei einer Familie südlich von Kopenhagen untergebracht. Seither ist Annelise etwas aufgetaut. Es besteht kein Zweifel mehr daran, dass sie zu dem angenommenen Zeitpunkt des Selbstmordversuchs unter Drogen stand.
Den Analysen zufolge befanden sich in ihrem Magen jede Menge verschiedener euphorisierender Stoffe, die in Tablettenform geschluckt wurden.«
Die meiste Zeit hatte Carl dem Vortrag mit geschlossenen Augen zugehört. Wie Bak seine Fälle durchzog, so langsam und umständlich, und trotzdem so oberflächlich, kotzte ihn an. Schon Baks Anblick konnte er nicht ertragen. Warum sollte er auch? Er hatte ja mit diesem Fall nichts zu tun. Sein Stuhl stand unten im Keller, das durfte er nie vergessen. Der Chef hatte ihn nur nach oben geholt, um ihm kurz symbolisch auf die Schulter zu klopfen, weil er dazu beigetragen hatte, dass der Fall hier oben einen Schritt weitergekommen war. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Weitere Einmischungen seinerseits würde er ihnen jetzt ersparen.
»Wir haben kein Pillenglas oder Ähnliches gefunden. Es weist also vieles in die Richtung, dass jemand, vermutlich der Täter, die Tabletten lose mitbrachte und Annelise zwang, sie zu schlucken«, fuhr Bak fort.
Ach, darauf war er auch schon gekommen.
»Damit haben wir es mit einem gescheiterten Mordversuch zu tun. Und die Drohung, ihre Kinder umzubringen, hat sie zum Schweigen gebracht.«
An dieser Stelle unterbrach Marcus Jacobsen Bak. Er hatte gesehen, wie den Neuen ihre Fragen auf den Nägeln brannten, und wollte ihnen entgegenkommen.
»Annelise Kvist, ihre Mutter und die Kinder erhalten
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