Erbarmen
wurde. Die Marinetaucher hatten ihre Übungen in das Gebiet verlegt. Eine Wasserleiche wurde erst auf Eis gelegt und anschließend obduziert. Fehlanzeige. Die Fischer wurden benachrichtigt, besonders aufmerksam auf im Wasser treibende Objekte zu achten. Kleidungsstücke, Taschen, alles. Aber niemand fand etwas, das sich mit Merete Lynggaard in Verbindung bringen ließ.
Die Medien stiegen damals voll auf die Sache ein. Merete Lynggaards Verschwinden lieferte fast einen Monat lang Material für die erste Seite. Alte Fotos wurden ausgekramt und veröffentlicht, von einem Schulausflug, wo Merete in einem engen Badeanzug posierte; die exzellenten Noten, die sie bei ihrem Universitätsstudium erreichte, wurden abgedruckt und von sogenannten Lifestyle-Experten analysiert. Selbst an sich seriöse Journalisten begannen irgendwann, sich an den Spekulationen um ihre sexuelle Ausrichtung zu beteiligen. Und den Schmierfinken der Boulevardblätter lieferte in erster Linie die Existenz von Uffe Stoff für miese Spekulationen.
Es gab nicht wenige Kollegen von Merete Lynggaard, die sich daran beteiligten und die Gerüchteküche befeuerten: dass es da in ihrem Privatleben etwas gab, das sie verbergen wollte. Man konnte natürlich nicht ahnen, dass es ein behinderter Bruder war. Selbst als das Interesse an der Geschichte bereits abebbte, brachten die Zeitungen auf den ersten Seiten alte Fotos von dem Autounfall, bei dem ihre Eltern umkamen und der zu Uffes Behinderung geführt hatte. Alles wurde ans Licht gezerrt. Zu Lebzeiten war Merete Lynggaard ein begehrter Stoff gewesen, und noch im Tod war sie es geblieben. Die Moderatoren des Frühstücksfernsehens hatten Mühe, ihre Begeisterung zu verbergen. Ein verärgerter Prinzgemahl oder der übertriebene Rotweinkonsum eines Vorortbürgermeisters - da war eine ertrunkene Parlamentsabgeordnete doch was ganz anderes.
Man veröffentliche sogar Fotos vom Doppelbett in Merete Lynggaards Haus. Von wem die stammten, erfuhr man nicht. Und die Schlagzeilen waren übel: Hatten die beiden Geschwister etwas miteinander? Warum sonst gab es in dem großen Haus nur das eine Bett? War das der Grund für ihren Tod? Jeder halbwegs vernunftbegabte Mensch musste das doch wohl merkwürdig finden.
Als sich die Geschichte nicht mehr weiter ausschlachten ließ, begannen die Spekulationen um die Freilassung Uffe Lynggaards. War die Polizei zu hart und rücksichtslos vorgegangen? Oder war der Kerl zu leicht davongekommen? Hatte das Rechtssystem versagt? Später hechelte die Presse noch die Unterbringung Uffes in Egely durch. Bis der Spuk vorbei war. In der Sauregurkenzeit des Sommers 2002 ging es dann endlich wieder um Regen und Hitze und die Geburt eines Prinzen und die Fußballweltmeisterschaft.
Doch, ja, die dänische Presse wusste, was die Leser interessierte. Merete Lynggaard war Schnee von gestern.
Sechs Monate später wurden schließlich auch die polizeilichen Ermittlungen eingestellt. Es gab jede Menge anderes zu tun.
Carl nahm sich zwei Bogen Papier und schrieb mit Kugelschreiber auf den einen:
Verdächtig:
1) Uffe
2) Unbekannter Postbote. Brief bezüglich Berlin
3) Mann/Frau aus dem Cafe Bankeråt
4) »Kollegen« in Christiansborg
5) Raubmord nach Überfall. Wie viel Bargeld war in der Tasche?
6) Sexualdelikt
Auf den zweiten Bogen schrieb er:
Überprüfen:
Uffes Sachbearbeiterin in der Gemeinde Stevns Telegramm
Assistentinnen in Christiansborg
Zeugen auf der Fähre »Schleswig-Holstein«
Nachdem er seine Notizen eine Weile nachdenklich betrachtet hatte, fügte er auf Blatt zwei unten hinzu:
Pflegefamilie nach dem Unfall/ alte Kommilitonen. Neigte sie zu Depressionen? War sie schwanger? Verliebt?
Als er den Aktenordner zuklappte, kam ein Anruf aus dem Kommissariat. Marcus Jacobsen ließ bitten. Er sollte nach oben in den Konferenzraum kommen.
Carl nickte Assad zu, als er an dessen winzigem Büro vorbeiging. Der klebte an seinem Telefon, wirkte konzentriert und sehr ernst. Nicht wie sonst, wenn er mit seinen grünen Gummihandschuhen in der Tür stand. Er wirkte fast wie ein anderer Mensch.
Alle, die mit dem Fahrradmord zu tun hatten, waren versammelt. Marcus Jacobsen deutete auf den Platz, wo Carl am Konferenztisch sitzen sollte, und dann begann Bak mit seinem Bericht.
»Unsere Zeugin, Annelise Kvist, hat schon früh um Zeugenschutz gebeten. Wir wissen inzwischen, dass sie Drohungen erhielt: Man würde ihre Kinder bei lebendigem Leib häuten, wenn sie redete.
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