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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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hatte, hob sie nur langsam und vorsichtig den Blick, aus Angst, von ihrem eigenen Spiegelbild überrumpelt zu werden. Doch nach und nach hatte sie den Blick aufwärts wandern lassen - bis sie schließlich ihrem Angesicht gegenüberstand. Der Anblick hatte ihr tief in der Seele wehgetan. Sie hatte die Augen für einen Moment schließen müssen, so grausam war der Eindruck. Nicht, weil sie wirklich so schlecht aussah, wie sie befürchtet hatte. Nein, nicht deshalb. Ja, das Haar war fettig und verfilzt und die Haut unendlich blass. Aber das war es nicht.
    Ihr gegenüber stand ein Mensch, der verloren war. Das war es. Ein Mensch, zum Sterben verurteilt. Eine Fremde - vollkommen allein in der Welt.
    »Du bist Merete«, hatte sie laut gesagt und dabei gesehen, wie sie die Worte aussprach. »Ich stehe dort«, sagte sie dann, und sie wünschte, dass es nicht wahr sei. Sie hatte sich wie von ihrem Körper getrennt gefühlt, und doch war sie es, die dort stand. Wie sollte sie etwa nicht den Verstand verlieren?
    Dann hatte sie sich von den Bullaugen abgewandt und war in die Hocke gegangen. Sie hatte zu singen versucht, aber als sie ihre Stimme hörte, klang die, als gehörte sie einem anderen Menschen. Da rollte sie sich auf dem Boden zusammen und sprach ein Gebet. Und als sie fertig war, betete sie noch einmal. Sie betete, bis sich ihre Seele aus diesem Zwischenzustand gelöst hatte und sie in eine Art Trance verfiel. Und sie ruhte sich aus in Träumen und Erinnerungen und gab sich das Versprechen, sich nie wieder vor diesen Spiegel zu stellen und sich selbst zu betrachten.
 
    Mit der Zeit lernte sie die Signale ihres Körpers kennen und deuten. Wann das Essen verspätet war. Wann der Druck ein winziges bisschen schwankte, und wann sie am besten schlief.
    Die Eimer wurden in sehr regelmäßigen Intervallen ausgetauscht. Sie hatte versucht, die Sekunden zu zählen, und zwar von dem Moment an, wo ihr der Magen erzählte, es sei an der Zeit, dass die Eimer kamen. Die Abweichung betrug höchstens eine halbe Stunde. Damit hatte sie ein zeitliches Raster, an dem sie sich orientieren konnte, vorausgesetzt, sie bekam immer einmal am Tag Essen.
    Dieses Wissen war ein Trost und gleichzeitig ein Fluch. Ein Trost, weil sie so die Gewohnheiten und Rhythmen der Außenwelt assoziieren konnte und in Kontakt mit ihr blieb. Und ein Fluch aus genau demselben Grund. Draußen wurde es Sommer, Herbst, Winter - und hier war nichts. Sie stellte sich lauen Sommerregen vor. Wie der den Geruch und all das Würdelose von ihr einfach abwusch. Sie blickte in die Glut der großen Feuer zu Sankt Johanni, und sie sah den Weihnachtsbaum in all seinem Glanz. Kein Tag verging ohne Gemütserregung. Sie kannte die Daten und erinnerte sich, was sie bedeuten konnten. Draußen in der Welt.
    Und sie saß allein auf dem nackten Fußboden und zwang ihre Gedanken, sich auf das Leben dort draußen zu richten. Das war nicht leicht. Oft drohten die Gedanken ihr zu entgleiten, aber sie hielt sie fest im Griff. Jeder Tag bekam seine Bedeutung.
    An dem Tag, an dem Uffe neunundzwanzig und ein halbes Jahr wurde, lehnte sie sich an die kalte Wand und stellte sich vor, sie striche ihm übers Haar, während sie ihm gratulierte. Sie wollte in Gedanken einen Kuchen backen und ihm den schicken. Zuerst musste sie alle Zutaten einkaufen. Sie würde den Mantel anziehen und den Herbststürmen trotzen. Und sie kaufte ein, wo sie Lust hatte. In der Delikatessenabteilung des Magasin. Sie nahm, was ihr gefiel. Nichts war an diesem Tag zu gut für Uffe.
 
    Merete zählte die Tage, und sie grübelte endlos, was ihre Entführer wohl vorhatten und wer sie überhaupt waren. Manches Mal kam es ihr vor, als glitte ein schwacher Schatten über eine der verspiegelten Scheiben, und es schauderte sie. Sie bedeckte ihren Körper, wenn sie sich wusch. Stellte sich mit dem Rücken zu den Bullaugen, wenn sie ganz nackt war. Zog den Toiletteneimer zwischen die beiden Bullaugen, sodass sie niemand sehen konnte, wenn sie sich setzte.
    Denn sie waren da. Es würde keinen Sinn machen, wenn sie nicht da waren. Manchmal hatte sie mit ihnen geredet, aber nicht mehr so oft. Sie antworteten ja doch nicht.
    Sie hatte sie um Binden gebeten, bekam aber keine. Und wenn die Menstruation am heftigsten war, reichte das Toilettenpapier nicht, und sie hatte nichts zum Wechseln.
    Sie hatte um eine Zahnbürste gebeten, aber auch die bekam sie nicht, und das bedrückte sie. Sie massierte stattdessen das Zahnfleisch mit dem

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