Erbarmen
zurückgezogen hat. Man kann das gar nicht genug betonen.«
»Die Gefahr bestand also, Ihrer Ansicht nach?«
»Unbedingt. Aber es stimmt schon, er hat manchmal einen sehr lebhaften Gesichtsausdruck. Und nein, ich finde nicht, dass es ihm im Laufe der Zeit schlechter ging.«
»Hat er denn überhaupt begriffen, was mit seiner Schwester passiert war?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Ist das nicht sonderbar? Was ich damit sagen will: Wenn sie zum Beispiel nicht rechtzeitig nach Hause kam, hat er doch auch reagiert.«
»Wenn Sie mich fragen, dann hat er nicht gesehen, wie sie ins Wasser stürzte. Er wäre ganz außer sich gewesen, und meiner Meinung nach wäre er wahrscheinlich selbst hinterhergesprungen. Und was seine persönliche Reaktion angeht: Er ist tagelang auf Fehmarn umhergeirrt. Da hatte er alle Zeit, zu weinen und zu suchen und so verwirrt zu sein, wie er überhaupt nur sein konnte. Als sie ihn fanden, war er ganz leer - da waren nur noch Durst und Hunger und Müdigkeit. Meines Wissens hatte er drei bis vier Kilo an Gewicht verloren. Höchstwahrscheinlich hatte er in der ganzen Zeit, seit er von Bord ging, nichts zu essen oder zu trinken bekommen.«
»Aber vielleicht hatte er ja doch seine Schwester über Bord gestoßen und wusste, dass er damit etwas Falsches getan hatte?«
»Herr Mørck, wissen Sie was. Ich habe mir doch gleich gedacht, dass Sie darauf hinauswollten.«
Der Wolf zeigte wieder seine Zähne, er musste also aufpassen. »Ich hätte nicht übel Lust, den Hörer aufzuknallen, aber stattdessen will ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Da haben Sie dann etwas, worüber Sie nachdenken können.«
Er umklammerte den Hörer.
»Sie wissen, dass Uffes Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind?«
»Ja.«
»Ich bin der Meinung, dass Uffe seither sozusagen frei schwebt. Nichts hat je ersetzen können, was ihn mit den Eltern verband. Merete hat es versucht, aber sie war weder seine Mutter noch sein Vater. Sie war die große Schwester, mit der er früher spielte, und dabei blieb es. Wenn sie nicht da war und er weinte, dann nicht aus Unsicherheit, sondern mehr aus der Enttäuschung heraus, dass ein Spielkamerad ihn versetzt hatte. Tief in seinem Inneren ist er bis heute ein kleiner Junge geblieben, der darauf wartet, dass Vater und Mutter zurückkommen. Und was Merete betrifft: Über den Verlust eines Spielkameraden kommen alle Kinder früher oder später hinweg. Und jetzt kommt die Geschichte.«
»Ich höre.«
»Eines Tages fuhr ich zu den beiden. Ich kam unangemeldet, was an sich nicht meine Art war. Aber ich hatte in der Nähe zu tun gehabt und wollte nur schnell mal guten Tag sagen. Ich ging also durch den Vorgarten. Dass Meretes Auto nicht da war, hatte ich schon gesehen. Wenige Minuten später kam sie dann, sie war nur zum Einkaufen im Laden unten an der Kreuzung gewesen. Das war damals, als es den noch gab.«
»Der Kaufmann in Magleby?«
»Ja. Und als ich dort auf dem Gartenweg stand, hörte ich hinten bei ihrem Wintergarten jemanden plappern. Es hörte sich an, als wäre da ein kleines Kind, aber da war keins. Erst als ich fast direkt vor Uffe stand, merkte ich, dass er es war. Er saß neben einem Haufen Kies auf der Terrasse und redete mit sich selbst. Die Worte konnte ich nicht verstehen, wenn es überhaupt Worte waren. Aber ich begriff, was er gerade machte.«
»Hat er Sie gesehen?«
»Ja, sofort. Aber er konnte nicht so schnell zudecken, was er gebaut hatte.«
»Und das war?«
»Er hatte durch den Kies auf der Terrasse eine Furche gezogen, und zu beiden Seiten hatte er kleine Zweige gelegt. In der Mitte lag ein Holzklötzchen, und zwar auf dem Kopf.«
»Ja?«
»Sie verstehen nicht, was er gebaut hatte?«
»Ich versuche es mir vorzustellen.«
»Der Kies und die Zweige waren die Straße und die Bäume. Der Holzklotz war das Auto seiner Eltern. Uffe hatte den Autounfall rekonstruiert.«
Der helle Wahnsinn! »Und er wollte nicht, dass Sie das sehen?«
»Mit einer einzigen Handbewegung zerstörte er, was er gebaut hatte. Und das war es, was mich endgültig überzeugte.«
»Wovon?«
»Dass Uffe sich erinnert.«
Einen Moment war es ganz still. Das Radio im Hintergrund klang plötzlich übermäßig laut.
»Haben Sie Merete Lynggaard davon erzählt, als sie kam?«
»Ja. Aber sie fand, das sei eine Überinterpretation. Dass er oft mit Sachen spielte, die gerade vor ihm lagen. Dass ich ihn erschreckt hätte, und dass er deshalb so reagierte.«
»Haben Sie ihr
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