Erbarmen
lachend.
»Wie geht's?«, fragte Carl Assad und wunderte sich über die Stapel von Fotokopien, die ordentlich an der Wand aufgereiht bis zur Treppe lagen. Bestand die Akte wirklich aus so vielen Teilen?
» Ja also, tut mir leid, Carl, dass es so lange dauert. Aber das sind die Zeitungen, also die sind am schlimmsten.«
Mørck blickte noch einmal auf die Stöße. »Kopierst du die ganze Zeitschrift?«
Assad neigte den Kopf auf die Seite wie ein kleiner Welpe, der überlegt, ob er wegrennen soll. Ach du meine Güte.
»Hör mal. Du musst nur die Seiten kopieren, die mit dem Fall zu tun haben, Assad. Ich glaube, Hardy ist es scheißegal, welcher Prinz auf der Jagd in Hinterposemuckel wie viele Fasane geschossen hat. Alles klar?«
»Hinterposemuckel ?«
»Vergiss es, Assad. Konzentrier dich einfach auf den Fall und wirf die Seiten weg, die nicht relevant sind. Du hast einen super Job gemacht.«
Er ließ Assad bei der brummenden Maschine stehen, ging in sein Büro und rief die pensionierte Sachbearbeiterin an, die den Fall Uffe Lynggaard betreut hatte. Vielleicht war ihr ja irgendetwas aufgefallen, das ihnen weiterhelfen konnte.
Karen Mortensen klang auf Anhieb sympathisch. Er sah sie förmlich vor sich, wie sie im Schaukelstuhl saß und Teekannenwärmer häkelte. Zum Klang ihrer Stimme passte ausgezeichnet das Ticken einer Bornholmer Standuhr. Es war fast so, als riefe er zu Hause bei der Familie in Brønderslevan.
Aber schon der nächste Satz belehrte ihn eines Besseren.
Offenbar war sie im Geist noch immer die Angestellte in der Gemeinde Stevns. Ein Wolf im Schafspelz.
»Ich kann mich weder zum Fall Uffe Lynggaard äußern noch zu anderen Fällen. Da müssen Sie sich schon an die Gesundheitsabteilung in Store Heddinge wenden.«
»Da war ich schon. Hören Sie, Frau Mortensen.Ich versuche herauszufinden, was mit Uffes Schwester passiert ist.«
»Uffe wurde von allen Punkten der Anklage freigesprochen«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Das weiß ich, und das ist auch richtig so. Aber vielleicht kann uns Uffe doch noch mal weiterhelfen.«
»Wozu soll das gut sein? Seine Schwester ist tot. Uffe spricht nicht. Was soll er also beitragen?«
»Wenn ich nun zu Ihnen käme, würden Sie mir dann vielleicht erlauben, Ihnen einige Fragen zu stellen?«
»Nicht, wenn es um Uffe geht.«
»Ich begreife das nicht. Wann immer ich mit Menschen spreche, die Merete Lynggaard kannten, erzählen sie mir, dass Merete Sie stets in den höchsten Tönen gelobt habe. Dass sie und ihr Bruder ohne Ihre Hilfe verloren gewesen wären.« Sie wollte etwas sagen, aber er war noch nicht fertig. »Wie Sie wissen, heißt es, sie habe sich das Leben genommen. Wir glauben nicht daran. Und Sie sind einer der wenigen Menschen, der Meretes Ruf verteidigen kann. Sie selbst kann es nicht mehr.«
Am anderen Ende war gedämpft ein Radioprogramm zu hören. Karen Mortensen seufzte. Das war vermutlich der einzige Weg gewesen, sie aus der Reserve zu locken.
Zehn Sekunden brauchte sie, dann hatte sie das Lob geschluckt. »Meines Wissens sprach Merete Lynggaard mit niemandem über ihren Bruder. Von seiner Existenz wussten nur wir im Sozialamt«, kam es dann zögernd. Aber sie klang inzwischen etwas unsicher.
»So sollte es ja wohl auch sein. Aber es gab da ja noch andere Familienmitglieder, zwar drüben in Jütland, aber immerhin.« Er legte eine kleine Kunstpause ein, musste nachdenken, welche Familienmitglieder er notfalls erfinden könnte. Aber Karen Mortensen hatte schon angebissen, das spürte er.
»Haben Sie seinerzeit selbst die Hausbesuche bei Uffe vorgenommen?«, fragte er vorsichtig.
»Nein, das war unser Kurator. Aber ich war in all den Jahren für den Fall verantwortlich.«
»Hatten Sie denn den Eindruck, dass es Uffe im Laufe der Zeit schlechter ging?«
Sie zögerte. Er musste jetzt dranbleiben, wenn sie ihm nicht wieder entgleiten sollte.
»Ja, also ich frage Sie deshalb, weil ich heute zum ersten Mal den Eindruck hatte, man könnte ihn doch irgendwie erreichen. Aber vielleicht irre ich mich auch«, ergänzte er.
Sie klang überrascht. »Sie haben Uffe schon kennengelernt ?«
»Ja, selbstverständlich. Ein sehr charmanter junger Mann. Sein Lächeln kann einen wirklich blenden. Kaum zu glauben, dass mit ihm etwas nicht stimmt.«
»Ja, und so ist es schon vielen vor Ihnen gegangen. Aber so ist es bei diesen Menschen mit Hirnschaden ja häufig. Es ist einzig Meretes Verdienst, dass er sich nicht vollständig in sich
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