Erbarmen
geschaut und sich amüsiert.
Was mochte sie sich vom Leben erwartet haben? Ob sie geahnt hatte, dass sie schon wenige Tage später in den kalten Ostseefluten versinken würde?
Als er zurückkam, war Assad oben bei den Sekretärinnen noch vollauf beschäftigt, und das passte Carl gut. Die Aufregung, Vigga und ihr wandelndes Gespenst zu treffen, hatte alle Kraft aus ihm gesaugt. Schnell wieder auf die Beine konnte ihn nur ein Nickerchen bringen, mit den Füßen auf dem Tisch und den Gedanken tief im Traumland begraben.
Er hatte sicher nicht mehr als zehn Minuten so dagesessen, als sein meditativer Zustand von einem Gefühl unterbrochen wurde, das alle Kriminalbeamten sehr gut kennen und das Frauen Intuition zu nennen pflegen. Ein Gefühl, das sich aus dem Unterbewusstsein Stück für Stück ins Bewusstsein schiebt.
Er öffnete die Augen und sah sich die Zettel an, die er mit Magneten an der Tafel angebracht hatte.
Dann stand er auf und strich »Uffes Sachbearbeiterin in der Gemeinde Stevns« auf dem einen Blatt Papier durch, sodass da unter »Überprüfen« jetzt nur noch stand: »Telegramm Assistentinnen in Christiansborg - Zeugen auf der Fähre >Schleswig- Holstein <«.
Wer weiß, womöglich hatte das Telegramm ja doch mit Merete Lynggaards Assistentin zu tun. Wer hatte in Christiansborg sonst noch ein Valentins-Telegramm erhalten? Warum war er auf einmal so sicher, dass nur Merete Lynggaard eines bekommen hatte? Damals gab es wohl kaum einen anderen Politiker im Folketing, der so populär war wie sie. Und so viel zu tun hatte. Logisch also, dass dieses Telegramm irgendwann durch die Hände der Assistentin gegangen war. Nicht, weil er diese verdächtigte, ihre Nase in das Privatleben ihrer Chefin zu stecken, aber aus Gründen der Arbeitsorganisation.
Es war dieses Aber, das ihn aufgeschreckt hatte.
»Die Antwort von TelegramsOnline ist gekommen, Carl.« Assad stand in der Tür.
Carl blickte auf.
»Sie können nicht sagen, was drin stand. Aber sie haben registriert, wo es herkam. Ganz witziger Name.« Er sah auf den Zettel. »Tage Baggesen heißt er. Ich habe die Telefonnummer bekommen, von der aus er das Telegramm bestellt hat. Sie haben gesagt, das ist im Folketing. Das wollte ich nur sagen.« Er gab Carl das Blatt Papier und war schon fast wieder draußen. Dann drehte er sich noch mal um und sagte: »Wir sind dabei, den Verkehrsunfall der Lynggaards zu untersuchen. Die warten oben auf mich.«
Carl nickte, nahm das Telefon und gab die Nummer ein.
Die Stimme, die antwortete, gehörte einer Assistentin im Sekretariat der Radikalen Centrumspartei.
Sie war freundlich, teilte aber leider mit, dass Tage Baggesen über das Wochenende auf die Färöer gereist war. Sie fragte, ob sie eine Nachricht hinterlegen solle.
»Nein, nicht nötig«, sagte Carl. »Ich rufe ihn am Montag an.« »Das wird schwierig; er hat den ganzen Kalender voller Termine. Nur damit Sie es wissen.«
Dann bat er darum, zum Sekretariat der Demokratischen Partei durchgestellt zu werden.
Diesmal nahm eine ziemlich müde klingende Sekretärin das Telefon ab. Sie hatte auch nicht auf Anhieb eine Antwort auf seine Frage parat. War Merete Lynggaards Sekretärin zuletzt nicht eine Søs Norup gewesen?
Carl bejahte.
Daraufhin sagte sie, sie könne sich nicht so richtig an sie erinnern, sie sei nur sehr kurz bei ihnen gewesen. Aber er hörte, wie eine der anderen Sekretärinnen im Raum ergänzte, dass Søs Norup doch von der Dänischen Gesellschaft für Anwälte und Wirtschaftsfachleute gekommen und auch dorthin zurückgegangen sei, als man sie aufforderte, für Merete Lynggaards Nachfolger zu arbeiten. »Sie war total anstrengend«, war auf einmal als Kommentar aus dem Hintergrund zu hören. Ein negatives Image half der Erinnerung der Menschen oft am besten auf die Sprünge.
Ja, dachte Carl irgendwie zufrieden. So richtig solide Arschlöcher wie wir es sind, an die erinnern sich alle noch am ehesten.
Dann rief er bei dieser Gesellschaft an, und ja, alle dort kannten Søs Norup. Und nein, sie war nicht zu ihnen zurückgekehrt. Niemand wusste etwas über ihren Verbleib.
Carl legte auf und schüttelte den Kopf. Aus heiterem Himmel hatte sich sein Job zu einem Fall wie in einer Vorabendserie entwickelt. Es gab Fährten in alle möglichen Richtungen. Jetzt musste er also eine Sekretärin aufstöbern, die sich vielleicht an ein Telegramm sowie an eine bestimmte Person erinnerte, mit der Merete Lynggaard vor ihrem Verschwinden
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