Erbarmen
klettere ich jetzt eigentlich nach oben?«, rief er. »Und hast du mit dieser Krisenpsychologin geredet?«
Er trat ins Freie und blinzelte im Sonnenlicht. Niemand hatte zu bestimmen, wie viel Lametta auf seine Paradeuniform geklatscht werden würde. Außerdem, wie Carl Vigga kannte, wusste sie schon, dass er befördert werden sollte, und damit wäre die Lohnerhöhung dahin. Wer würde dafür schon so einen verfluchten Kurs in Kauf nehmen?
Das Ladenlokal, das Vigga sich ausgesucht hatte, war ein altes Trikotagengeschäft. Zwischenzeitlich hatten dort ein Verlag, eine Setzerei, ein Kunstimport und ein CD-Shop residiert, und jetzt war von der ursprünglichen Einrichtung nur noch die Opalglasdecke übrig. Der Raum war höchstens fünfunddreißig Quadratmeter groß, aber er hatte zweifellos Charme: eine Fensterfront mit Blick auf die Seen, auf der anderen Seite eine Pizzeria. Hinterhof mit grünem Einschlag. In nächster Nachbarschaft lag das Bankeråt, wo Merete Lynggaard wenige Tage vor ihrem Tod zum Essen gewesen war. Die Nansensgade mit all den Cafes und Kneipen war keine schlechte Adresse. Eine richtige Boheme-Idylle.
Er drehte sich um und sah Vigga und diesen Typen am Fenster des Bäckers vorbeigehen. Sie beherrschte die Straße genauso selbstverständlich und farbenfroh wie ein Matador die Stierkampfarena. Ihre Künstlergewänder strahlten in allen Farben der Palette. Lustig war Vigga schon immer gewesen. Was man von dem kränklich wirkenden Mannsbild an ihrer Seite nicht behaupten konnte. Mit den engen schwarzen Klamotten, der kreidebleichen Haut und den dunklen Rändern unter den Augen würde der seine Artgenossen am ehesten in den Bleisärgen eines Dracula-Films finden.
»Süüüüßer«, rief sie Carl zu, als sie die Ahlfeldtsgade überquerten.
Es würde sicher teuer werden.
Während das magere Gespenst die herrlichen Räumlichkeiten ausmaß, bearbeitete Vigga Carl. Er müsse ja nur zwei Drittel der Miete bezahlen, für den Rest würden sie schon selbst aufkommen.
Mit großer Geste meinte sie: »Wir werden das Geld nur so hereinschaufeln, Carl.«
Ja, oder hinaus, dachte er und überschlug im Kopf: Auf zweitausendsechshundert Kronen würde das wohl hinauslaufen. Monatlich. Vielleicht sollte er doch an dieser verdammten Fortbildung teilnehmen.
Sie setzten sich ins Cafe Bankeråt, um den Vertrag durchzugehen, und Carl sah sich um. Hier war Merete Lynggaard gewesen. Und kurz darauf war sie wie vom Erdboden verschluckt. »Wem gehört das hier?«, fragte er eines der Mädchen an der Bar.
»Jean-Yves - der sitzt da drüben.« Sie deutete auf einen stämmigen Mann, der so gar nichts Zartes und Französisches an sich hatte.
Carl stand auf, zog seine Polizeimarke aus der Tasche und ging zu dem Besitzer hinüber. »Darf ich fragen, wie lange Ihnen dieses tolle Restaurant schon gehört?«, erkundigte er sich und zeigte seine Marke. Dem freundlichen Lächeln des Typen nach zu urteilen, wäre das nicht nötig gewesen, aber zwischendurch musste Carl sich selbst immer wieder daran erinnern, dass er einen Job hatte.
»2002 habe ich den Laden übernommen.«
»Wissen Sie noch, in welchem Monat das war?« »Worum geht es denn?«
»Ich ermittle im Fall Merete Lynggaard. Vielleicht erinnern Sie sich noch, dass die junge Politikerin vor ein paar Jahren spurlos verschwand?«
Er nickte.
»Und kurz zuvor war sie hier im Lokal. Waren Sie damals schon hier?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe das Geschäft am 1. März 2002 von einem meiner Freunde übernommen. Ich weiß noch gut, dass er damals befragt wurde. Aber wenn mich nicht alles täuscht, konnte sich niemand an die Frau erinnern.« Er lächelte. »Vielleicht hätte ich es gekonnt, wenn ich hier gewesen wäre.«
Carl erwiderte das Lächeln. Er gab sich wachsweich. »Sie kamen nur leider einen Monat zu spät. So geht's halt manchmal.« Er gab dem Mann zum Abschied die Hand.
In der Zwischenzeit hatte Vigga alles unterschrieben, was vor ihr lag. Sie war mit ihren Unterschriften schon immer recht freigebig gewesen.
»Lass es mich nur schnell durchsehen«, sagte Carl und nahm Hugin die Papiere aus der Hand.
Demonstrativ legte er den Standardvertrag mit einer Menge Kleingedrucktem vor sich auf den Tisch, ohne dass er den Text genauer ansah. All diese Menschen, dachte er, die so durch die Welt laufen und keine Ahnung haben, was ihnen alles zustoßen kann. Hier in diesem Lokal hatte Merete Lynggaard an einem kalten Februarabend 2002 gesessen, aus dem Fenster
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