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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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zusammengesessen hatte und die vielleicht etwas mehr über Merete Lynggaards Verschwinden wusste. Der Gedanke machte ihm wenig Freude. Dann doch lieber nach oben gehen und zusehen, wie weit Assad mit den Sekretärinnen und diesem verfluchten Autounfall gekommen war.
    Er fand sie in einem der Büros mit Faxgeräten und Fotokopierern und allen möglichen Papieren auf dem Tisch. Es sah aus, als hätte Assad ein Wahlbüro für eine Präsidentschaftskampagne eingerichtet. Drei Sekretärinnen, die zusammensaßen und schwatzten, und mittendrin Assad, der Tee einschenkte und jedes Mal eifrig nickte, wenn das Gespräch einen Schritt weiterkam. Ein beeindruckender Einsatz.
    Carl klopfte vorsichtig an den Türrahmen.
    »Na, das macht ja den Eindruck, als hättet ihr herrlich viel Material für uns gefunden.« Er deutete auf die Papiere und fühlte sich wie der unsichtbare Dritte. Nur die Sørensen hatte einen kurzen Blick für ihn übrig, und darauf hätte er gern verzichtet.
    Er zog sich wieder auf den Korridor zurück. Zum ersten Mal seit seiner Schulzeit fühlte er so etwas wie Eifersucht.
    »Carl Mørck?«, hörte er eine Stimme hinter sich, die ihn aus dem straffen Zugriff seiner Niederlage riss und sofort wieder auf Siegerkurs brachte. »Marcus Jacobsen sagte, Sie möchten mit mir sprechen. Sollen wir einen Termin vereinbaren?«
    Er drehte sich um und sah sich direkt Mona Ibsen gegenüber.
    Einen Termin vereinbaren?
    Ja. Ja doch!
     

Kap 22 - 2003-2005
     
    Als sie zu ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag das Licht ausgemacht und den Luftdruck erhöht hatten, schlief Merete Lynggaard vierundzwanzig Stunden am Stück. Die Einsicht, dass sie keinen Einfluss mehr auf ihr eigenes Leben nehmen konnte und sich auf direktem Weg in den Abgrund befand, hatte sie vollständig erschöpft. Erst am folgenden Tag, als der Essensbehälter wieder aus der Schleuse rumpelte, öffnete sie die Augen und versuchte, sich zu orientieren.
    Sie sah nach oben zu den Bullaugen, von wo kaum wahrnehmbar ein schwacher Schein hereindrang. Also war im Raum jenseits der Scheiben Licht. Es war gerade so viel wie von einem Streichholz, aber es war da. Sie erhob sich auf die Knie und versuchte die Quelle zu lokalisieren, aber hinter den Scheiben war alles diffus. Dann drehte sie sich um und inspizierte den Raum mit ihrem Blick. Sie hatte jetzt zumindest genug Licht, um im Lauf der nächsten Tage ein paar Details im Raum unterscheiden zu können.
    Einen Moment lang freute sie sich darüber, aber dann bezwang sie das Gefühl. Wie schwach das Licht auch war, es ließ sich jederzeit löschen.
    Nicht sie bestimmte darüber.
    Als sie aufstehen wollte, stieß ihre Hand gegen ein kleines Metallrohr, das neben ihr auf dem Boden lag. Das war die Taschenlampe, die sie ihr gegeben hatten. Sie umklammerte sie und gab sich Mühe, die Dinge in ihrem Kopf in einen Zusammenhang zu bringen. Die Taschenlampe bedeutete, dass sie das wenige Licht, das in den Raum drang, irgendwann ausmachen würden. Warum sonst sollten sie ihr eine Taschenlampe geben?
    Kurz erwog sie, die Lampe einzuschalten, und zwar einzig und allein deshalb, weil es möglich war. Dass sie selbst etwas hatte entscheiden können, war so lange her, dass die Versuchung groß war. Aber sie tat es nicht.
    Du hast deine Augen, Merete, lass die arbeiten, ermahnte sie sich selbst und legte die Taschenlampe neben den Kloeimer unter den Bullaugen. Schaltete sie die Lampe erst einmal ein, musste sie sich für lange Zeit mit der Dunkelheit abfinden, sobald sie sie wieder ausmachte.
    Fast so, wie Salzwasser trinken, um den Durst zu löschen.
    Trotz ihrer Zweifel blieb das schwache Licht. Sie konnte die Umrisse des Raums unterscheiden und auch ihre Gliedmaßen. In dem Lichtschein, der an winterdunkle Dämmerung erinnerte, vergingen fast fünf Monate. Dann wurde plötzlich alles wieder anders.
    Das war der Tag, an dem sie zum ersten Mal hinter den verspiegelten Scheiben Schatten sah.
    Sie hatte auf dem Fußboden gelegen und an Bücher gedacht.
    Das tat sie oft, um nicht an das Leben zu denken, das sie hätte führen können, wenn sie eine Wahl gehabt hätte. Wenn sie an ihre Bücher dachte, tauchte sie ein in eine vollständig andere Welt. Allein schon der Gedanke, mit dem Finger über dieses trockene Material mit seiner seltsamen Struktur zu streichen, konnte in ihr ein sehnsuchtsvolles Feuer entfachen. Oder der Geruch von Zellulose und Druckerschwärze. Zum tausendsten Mal hatte sie die Gedanken in ihre imaginäre

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