Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
Vom Netzwerk:
Bibliothek geschickt und das einzige von allen Büchern auf der Welt ausgesucht, das sie vollständig aus der Erinnerung abrufen konnte, ohne es selbst weiterzudichten. Nicht das Buch, an das sie sich gern erinnern wollte, nicht das Buch, das den größten Eindruck auf sie gemacht hatte. Sondern das einzige Buch, das in ihrem gemarterten Gedächtnis durch schöne Erinnerungen an befreiendes Gelächter intakt geblieben war.
    Ihre Mutter hatte es ihr vorgelesen, und Merete hatte es Uffe vorgelesen, und nun saß sie hier im Dunkeln und strengte sich an, um es sich selbst vorzulesen. Ein kluger kleiner Bär namens Pu war ihr Rettungsanker, ihr Schutz gegen den Wahnsinn. Er und all die anderen Tiere im Hundertmorgenwald. Und sie war weit weg im Honigland, als sich plötzlich eine dunkle Fläche über das wenige Licht schob, das durch die Spiegelglasscheibe drang.
    Sie riss die Augen auf und atmete ganz tief ein. Dieses Flimmern war keine Einbildung. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit spürte sie, wie ihre Haut klamm wurde. Auf dem Schulhof, in engen nachtdunklen Gassen in fernen Städten, in den ersten Tagen im Folketing. Immer dann hatte sich ihre Haut so angefühlt. Ein Gefühl, das nur die Anwesenheit anderer Menschen hervorrufen konnte - Menschen, die einen heimlich beobachteten.
    Dieser Schatten will mir Böses, dachte sie und schlang die Arme um sich. Sie starrte auf den Flecken, der auf der Scheibe nach und nach größer wurde und schließlich zum Stillstand kam. Als gehörte er zu jemand, der auf einem hohen Stuhl saß, so hatte er sich über den Rand des Glases gelegt.
    Ob die mich sehen können?, dachte sie und starrte die Wand hinter sich an. Doch, die weiße Fläche war deutlich zu sehen, so deutlich, dass sie auch von außen sichtbar sein musste, selbst für jemanden, der es gewöhnt war, sich im Licht zu bewegen. Also konnten die auch sie sehen.
    Es war erst zwei Stunden her, seit das Essen hereingekommen war. Den Rhythmus kannte sie, weil ihn ihr Körper vollständig verinnerlicht hatte. Alles ging ganz regelmäßig vonstatten, Tag für Tag. Bevor der nächste Eimer kam, würden viele, viele Stunden vergehen. Warum also waren die dort draußen? Was mochten die von ihr wollen?
    Sie stand auf und ging langsam auf die Spiegelglasfläche zu.
    Der Schatten dahinter bewegte sich nicht.
    Dann legte sie die Hand auf die Scheibe, genau dorthin, wo sich der Schatten befand, und wartete. Und dann betrachtete sie ihr verwischtes Spiegelbild. So blieb sie stehen - bis sie ganz sicher war, dass ihrer Urteilskraft nicht zu trauen war. Schatten oder nicht. Das konnte sonst etwas sein. Warum sollte jemand hinter den Scheiben stehen? Das hatten sie doch früher nicht getan.
    »Fahrt doch zur Hölle!«, schrie sie, und das Echo breitete sich auf ihrem Körper aus wie ein elektrischer Schlag.
    Aber da geschah es. Der Schatten hinter der Scheibe bewegte sich. Erst ein Stück zur Seite und dann rückwärts. Je weiter er sich von der Scheibe entfernte, desto kleiner und undeutlicher wurde er.
     »Ich weiß, dass ihr da seid!«, schrie sie und spürte, wie ihre feuchte Haut sich blitzschnell abkühlte. Ihre Lippen, ja selbst die Haut im Gesicht zitterten. »Geht weg«, fauchte sie zum Bullauge hin.
    Aber der Schatten blieb, wo er war.
    Da setzte sie sich auf den Boden und legte den Kopf in den Schoß. Ihre Kleider rochen sehr ekelhaft. Drei Jahre trug sie jetzt schon dieselbe Bluse.
 
    Dieses graue Licht war immerzu da, Tag und Nacht. Aber das war besser als die totale Dunkelheit oder die gleißende Helligkeit. In diesem grauen Nichts konnte sie selbst etwas bestimmen: Man konnte vom Licht wegschauen, oder man konnte von der Dunkelheit wegschauen. Nun brauchte sie nicht mehr die Augen zu schließen, um sich konzentrieren zu können. Sie ließ das Gehirn selbst bestimmen, in welchem Gemütszustand es sein wollte.
    Und dieses graue Licht barg alle Schattierungen in sich. Fast wie in der Welt da draußen, wo sich die Tage unterschieden. Winterhell. Februardunkel. Novembergrau. Regnerischdüster. Himmelblau. Zu der Palette gehörten Tausende weiterer Farbnuancen. Ihre Palette hier drinnen kannte nur Schwarz und Weiß, und sie mischte sie je nach Stimmung. Solange dieses graue Licht ihre Leinwand war, fühlte sie sich nicht gänzlich preisgegeben.
    Und Uffe, Pu der Bär und Don Quijote, die Kameliendame und Fräulein Smilla stürmten durch ihren Kopf und ließen die Schattenbilder hinter den Scheiben im Stundenglas versanden. Damit

Weitere Kostenlose Bücher