Erbarmen
da ahnte er bereits, dass Birger Larsen eher eine Karriere in einer Provinzklitsche anstreben würde, als irgendwann einmal unter dieser selbstzufriedenen Prätendentin für den Staatsministerposten zu arbeiten.
»Ich kann es bis heute nicht glauben, dass Merete Selbstmord begangen haben soll«, sagte er und schenkte Carl eine Tasse lauwarmen Kaffee ein. »Ich glaube nicht, dass ich hier drinnen jemals einen Menschen getroffen habe, der so vital und lebensfroh wirkte wie sie.« Er zuckte die Achseln. »Aber was wissen wir letztendlich denn schon von unseren Mitmenschen? Gibt es nicht in unser aller Leben Tragödien, die wir nicht vorhergesehen haben?«
Carl nickte. »Hatte sie hier in Christiansborg Feinde?«
Birger Larsens Lächeln enthüllte eine Reihe höchst unregelmäßiger Zähne. »Verdammt, wer hat das nicht? Merete war hier wohl die gefährlichste Politikerin. Sowohl was die Zukunft der Regierung als auch was den Einfluss von Piv Vestergård angeht oder die Möglichkeit des Radikalen Centrums, den Staatsministerposten zu ergattern. Ja, gefährlich für jeden, der sich selbst schon auf diesem Posten sah - was sich Merete unter Garantie in ein paar Jahren vorgenommen hätte.«
»Glauben Sie, dass jemand hier sie bedroht hat?«
»Ach, Mørck. Für so etwas sind wir Parlamentarier dann doch zu klug.«
»Vielleicht gab es private Beziehungen, Eifersucht, Hass? Irgendwas in diese Richtung?«
»Meines Wissens interessierte Merete sich nicht für persönliche Beziehungen. Für sie gab es nur Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Selbst ich, der sie seit dem Studium der Staatswissenschaft kannte, durfte mich ihr nie weiter nähern, als sie das selbst wollte.«
»Und sie wollte nicht?«
Wieder kamen die Zähne zum Vorschein. »Sie meinen, ob sie umschwärmt wurde? Oh ja, hier bei uns gibt es sicher fünf bis zehn Männer, von denen ich mir gut vorstellen könnte, dass sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre Ehefrauen für zehn Minuten mit Merete Lynggaard geopfert hätten.«
»Sie selbst vielleicht inklusive?« Carl erlaubte sich ein Lächeln.
»Tja, wer wohl nicht?« Hier verschwanden die Zähne. »Aber Merete und ich waren Freunde. Ich kannte meine Grenzen.« »Aber vielleicht gab es andere, die diese Grenzen nicht kannten ?«
»Dazu müssten sie Marion Koch fragen.«
»Lynggaards frühere Assistentin ?«
Sie nickten sich zu.
»Wissen Sie, warum sie ausgewechselt wurde?«
»Nein, keine Ahnung. Sie hatten ja einige Jahre zusammengearbeitet. Aber vielleicht war Marion Merete ein bisschen zu vertraulich geworden.«
»Und wo finde ich diese Marion Koch heute?«
Larsens Augen funkelten leicht belustigt. »Dort, wo Sie ihr vor zehn Minuten guten Tag gesagt haben, vermute ich.«
»Sie ist jetzt Ihre Assistentin?« Carl stellte die Tasse ab und deutete auf die Tür. »Gleich hier draußen?«
Marion Koch war ganz anders als die Frau, die ihn hier herauf geführt hatte. Klein und mit vollem lockigem Haar und alles in allem sehr verführerisch.
»Warum hat Merete Lynggaard Ihr Arbeitsverhältnis beendet, kurz vor dem Zeitpunkt ihres Verschwindens?«, fragte er sie ohne Umschweife.
Nachdenklich krauste sie die Stirn. »Ich habe es ehrlich gesagt nie verstanden. Damals jedenfalls nicht, da war ich im Gegenteil ziemlich sauer auf sie. Aber dann fand man ja heraus, dass sie einen geistig zurückgebliebenen Bruder hatte, um den sie sich kümmerte.«
»Und?«
»Na ja, ich hatte doch geglaubt, sie hätte einen Freund. Weil sie immer so geheimnisvoll tat und es jeden Tag so eilig hatte, nach Hause zu kommen.«
Er lächelte. »Und Sie haben sie darauf angesprochen?«
»Ja. Das war dumm, heute weiß ich das. Aber ich glaubte, wir stünden uns näher, als es der Fall war. So lernt man immer dazu.« Als sie so verlegen lächelte, zeigten sich in beiden Wangen Grübchen. Wenn Assad ihr je begegnete, würde er es in seinem Job zu nichts mehr bringen.
»Gab es jemanden hier im Haus, der gern näheren Kontakt zu ihr gehabt hätte?«
»Oh ja. Immer wieder mal wurden Nachrichten für sie hinterlegt, aber nur ein einziger Anwärter gab sich als seriös zu erkennen.«
»Könnten Sie den Schleier lüften, wer das war?«
Sie lächelte. Wenn ihr danach war, würde sie den Schleier wofür auch immer lüften.
»Ja. Das war Tage Baggesen.«
»Okay. Den Namen habe ich schon mal gehört.«
»Darüber würde er sich bestimmt freuen. Er ist Sprecher beim Radikalen Centrum, und das seit mindestens hundert Jahren, glaube
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