Erbarmen
ich.«
»Haben Sie das schon mal jemandem erzählt?«
»Ja, damals der Polizei, aber die maßen dem keine Bedeutung bei.«
»Und tun Sie das?«
Sie zuckte die Achseln. »Was ist mit den anderen?«
»Es gab da einige, aber nichts Ernstes. Sie nahm sich, was sie brauchte, wenn sie auf Reisen war.«
»Wollen Sie damit sagen, dass sie einen lockeren Lebenswandel pflegte?«
»Ach du liebe Güte, kann man das so interpretieren?« Sie wandte den Kopf ab und versuchte, das Lachen zu unterdrücken. »Nein, mit Sicherheit nicht. Aber eine Nonne war sie auch nicht gerade. Ich weiß nur nicht, mit wem sie ins Kloster ging, das hat sie mir nie gesagt.«
»Aber sie war an Männern interessiert?«
»Jedenfalls lachte sie immer, wenn in der Regenbogenpresse etwas anderes angedeutet wurde.«
»Wäre es denkbar, dass Merete Lynggaard einen Grund hatte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich ein neues Leben aufzubauen?«
»Sie meinen, ob sie jetzt gerade in Mumbai in der Sonne sitzt?« Sie wirkte empört.
»Ja, oder irgendwo sonst, wo das Leben für sie weniger problematisch ist. Wäre das vorstellbar?«
»Das ist völlig absurd. Sie war extrem verantwortungsbewusst. Ich weiß schon, dass es genau solche Menschen sind, die eines schönen Tages wie ein Kartenhaus zusammenklappen und einfach verschwinden. Aber nicht Merete.« Sie unterbrach sich und sah ihn nachdenklich an. »Aber der Gedanke ist schön.« Sie lächelte. »Dass Merete immer noch am Leben sein könnte.«
Er nickte. In der Zeit nach ihrem Verschwinden hatte man jede Menge psychologische Profile von Merete Lynggaard angefertigt, und alle kamen zum selben Ergebnis: Merete Lynggaard war keine, die einfach abhaute und ihr altes Leben hinter sich ließ. Selbst die Klatschkolumnisten wischten diese Möglichkeit beiseite.
»Wissen Sie etwas von einem Telegramm, das sie an ihrem letzten Tag hier in Christiansborg bekommen hat?«, fragte er. »Eine Valentinskarte ?«
Die Frage schien sie zu verstimmen. Offenbar hatte es ihr zugesetzt, dass sie nicht bis zuletzt hatte teilhaben können an Meretes Leben. »Nein. Die Polizei hat mich schon einmal danach gefragt, und genau wie damals muss ich auch Sie an Søs Norup verweisen, die meinen Platz einnahm.«
Er sah sie fragend an. »Tragen Sie ihr das nach?«
»Aber ja, wer würde das nicht? Wir hatten doch zwei Jahre lange problemlos zusammengearbeitet.«
»Und Sie wissen nicht zufällig, wo sich Søs Norup heute befindet?«
Sie zuckte die Achseln. Das war ihr nun offenkundig wirklich vollkommen egal.
»Aber dieser Tage Baggesen, wo finde ich den?«
Sie machte ihm eine Skizze und beschrieb ihm den Weg zu seinem Büro. Es klang kompliziert.
Er brauchte eine geschlagene halbe Stunde, um Tage Baggesens Büro bei der Partei Radikales Centrum zu finden, und ein Vergnügen war die Suche nicht gewesen. Wie man in diesem verdammten verlogenen Milieu arbeiten konnte, war ihm ein Rätsel. Im Polizeipräsidium wusste man immerhin, worauf man sich einzustellen hatte. Freunde und Feinde gaben sich dort ohne falsche Rücksichtnahme zu erkennen. Trotzdem arbeitete man zusammen, man hatte ein gemeinsames Ziel. Hier drinnen war es genau andersherum. Alle taten so, als seien sie die besten Freunde. Aber wenn es darauf ankam, dachte jeder Einzelne doch nur an sich. Es ging schließlich um Geld und um Macht. Weniger um Ergebnisse. Ein großer Mann war hier drinnen jemand, der andere klein machen konnte. So war es vielleicht nicht immer gewesen, aber heutzutage war es so.
Tage Baggesen war da zweifellos keine Ausnahme. Offiziell war er hier, um die Interessen seines fernen Wahlkreises und die Verkehrspolitik seiner Partei zu vertreten. Aber wenn man ihm gegenüberstand, wusste man es besser. Eine fette Pension hatte er sich bereits gesichert, und was in der Zwischenzeit hereinkam, ging für teure Garderobe und gewinnträchtige Investitionen drauf. Carl betrachtete die Wände, wo Urkunden von Golfturnieren neben gestochen scharfen Luftaufnahmen von Landgütern an unterschiedlichen Orten im Lande hingen.
Er überlegte kurz, ob er Tage Baggesen darauf ansprechen sollte, zu welcher Partei er eigentlich gehöre. Aber der Mann entwaffnete ihn mit freundlichem Schulterklopfen und machte eine einladende Handbewegung.
»Ich würde empfehlen, dass wir die Tür schließen«, sagte Carl und deutete in Richtung Flur.
Tage Baggesen zwinkerte ihm daraufhin etwas plump-vertraulich zu. Ein kleiner Trick der bei Verhandlungen um die Autobahn
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