Erbarmen
wundern. Sie war beliebt, selbst ihre politischen Widersacher mochten sie.«
»Mein Gefühl sagt mir etwas anderes. Aber Sie sind also nicht der Ansicht, dass Merete Lynggaard sich mit so entscheidenden Fragen beschäftigte, dass sie für jemand zum Problem werden konnte? Und dass man sie unbedingt und auf jeden Fall aufhalten musste? Keine Interessenvertretungen denkbar, die sich durch ihre Arbeit bedrängt oder sogar bedroht fühlten?«
Tage Baggesen betrachte Carl nachsichtig. »Da fragen Sie doch besser Mitglieder aus Merete Lynggaards eigener Partei. Sie und ich waren ja keine politisch Vertrauten. Ganz im Gegenteil, müsste ich sagen. Ist Ihnen da etwas Bestimmtes zu Ohren gekommen?«
»Man zieht doch Politiker auf der ganzen Welt für ihre Haltungen zur Verantwortung, nicht wahr? Gegner von Schwangerschaftsabbrüchen, fanatische Tierschützer, religiöse Fanatiker. Mehr oder weniger alles kann gewaltsame Reaktionen hervorrufen. Fragen Sie mal in Schweden nach oder in den Niederlanden oder den USA.« Carl machte Anstalten aufzustehen und sah bereits erste Zeichen von Erleichterung bei seinem Gegenüber. Aber durfte man dem viel Gewicht beimessen? Wer sähe so ein Gespräch nicht gern beendet?
Doch dann lehnte er sich wieder zurück. »Baggesen«, fuhr er fort. »Würden Sie mich bitte kontaktieren, wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, das ich wissen müsste?« Er gab ihm seine Karte. »Wenn nicht für mich, dann tun Sie's um ihretwillen. Ich glaube, nicht viele hier in Christiansborg empfanden das Gleiche für Merete Lynggaard wie Sie.«
Das traf den Mann unvorbereitet. Noch ehe Carl Mørck die Tür hinter sich geschlossen hätte, würden wohl wieder die Tränen fließen.
Den Auskünften des Einwohnermeldeamts zu folge war Søs Narup zuletzt bei ihren Eltern in Frederiksberg gemeldet. Vilhelm Norup, Grossist, und Kaja Brandt Norup, Schauspielerin, stand auf dem Messingschild.
Mørck klingelte. Hinter der massiven eichenen Tür hörte er eine schrille Türklingel und kurz darauf ein» Ja, ja, ich komme ja schon«.
Der Mann, der die Tür öffnete, war bestimmt schon seit einem Vierteljahrhundert pensioniert. Der Weste und dem seidenen Halstuch nach zu urteilen, war sein Vermögen noch nicht aufgebraucht. Carl kam offenkundig ungelegen. »Wer sind Sie?«, fragte der Grossist Norup ohne Umschweife und war schon im Begriff, die Tür wieder zu schließen.
Carl stellte sich vor, zog zum zweiten Mal in dieser Woche seine Marke aus der Tasche und bat dann, eintreten zu dürfen. »Ist Søs etwas passiert?« So wie der Alte die Frage stellte, klang sie eher inquisitorisch als besorgt.
»Das weiß ich nicht. Warum sollte es? Ist sie zu Hause?«
»Sie wohnt nicht mehr hier - falls Sie mit ihr sprechen wollen.«
»Wer ist da, Vilhelm?«, rief im Hintergrund eine schwache Stimme.
»Nur jemand, der mit Søs sprechen will, mein Schatz.«
»Dann muss er woanders hingehen«, war daraufhin hinter der Schiebetür zum Wohnzimmer zu hören.
Der alte Mann packte Carl am Ärmel. »Sie wohnt in Valby. Sagen Sie ihr, wenn sie weiter so leben will, dann soll sie ihre Sachen hier abholen.«
»Was meinen Sie mit >so< ?«
Norup gab keine Antwort. Immerhin nannte er eine Adresse, doch dann schob er Mørck geradezu zur Tür hinaus und schloss sie nachdrücklich hinter ihm.
In dem kleinen Mietshaus am Valhøjvej standen nur drei Namen auf den Klingelschildern. Mit Sicherheit hatten da einmal sechs Familien mit je vier bis fünf Kindern gewohnt. Was einmal ein Slum gewesen war, galt heute als chic. Hier in der Mansarde hatte Søs Norup ihre Liebe gefunden, eine Frau Mitte vierzig, die ihrer Skepsis beim Anblick von Carls Polizeimarke mit fest zusammengepressten blassen Lippen Ausdruck verlieh.
Søs Norups Mienenspiel machte auch keinen einladenderen Eindruck. Carl war sofort klar, warum weder diese dänische Anwaltsgesellschaft noch das Sekretariat der Demokratischen Partei im Folketing über ihr Verschwinden sonderlich betrübt waren. Eine ähnlich abweisende Ausstrahlung würde man so leicht nicht wieder finden.
»Merete Lynggaard war eine unmögliche Chefin«, war ihr erster Kommentar.
»Inwiefern?«
»Sie überließ die ganze Arbeit mir.«
»Ist es nicht gut, wenn eine Führungskraft abgeben kann?« Er betrachtete sie. Die Frau wirkte wie ein Mensch, der zeitlebens zu kurz gekommen war und der das hasste. Der Grossist Norup und seine sicher einst ach so berühmte Ehefrau hatten sie bestimmt gelehrt, was Arbeit,
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