Erbe des Drachenblutes (German Edition)
was sie tun sollte, zog es dann aber vor, die Anmerkung zu übergehen. »Trotz deiner verwirrten Worte kann ich dich gut leiden, Nirvan. Ich will dich nicht töten, und ich werde dich nicht verraten. Wenn du dich selbst nicht mit deinen verräterischen Reden auf das Schafott bringst, soll es nicht an mir liegen, dass du dort endest. Abgesehen davon bist du für mich das, was einem Freund noch am nächsten kommst.« Sie ergriff ein Messer auf dem Tisch, schnitt sich in die Handfläche und ließ ihr Blut in ein Gefäß laufen.
Nirvan konnte es nicht verstehen. Sie verschonte ihn, aber warum? Dass sie irgendwelche Gefühle für ihn empfand, konnte er ausschließen. Was auch die alte Schamanin mit ihr gemacht hatte, Liebe gab es nicht in Melanies Leben. Aber was war es dann? Sollte sie wirklich Freundschaft für ihn empfinden? Zumindest hatte er davon noch nie etwas bemerkt. Er wusste es nicht, doch im Moment war es auch nicht wichtig. Er glaubte ihr, dass sie ihn nicht verraten würde, und er hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Anprangern würde sie ihn nicht, gut, aber gehen lassen würde sie ihn auch nicht.
Melanie ergriff blitzschnell Nirvans Linke und zog ihr Messer auch durch seine Handfläche. Entsetzt stellte er wieder fest, dass ihre Geschwindigkeit unnatürlich war. Bevor er überhaupt den Mundwinkel vor Überraschung verziehen konnte, rührte sie mit der Klinge in dem Gefäß umher, als ob nie etwas gewesen wäre. »Wir warten jetzt, bis die Sterne gut am Himmelszelt zu sehen sind, dann bin ich bereit«, sagte sie, ohne das Rühren zu unterbrechen.
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Mina stand seit geraumer Zeit auf dem steinernen Balkon und starrte auf das hölzerne Gebilde, auf dem der Leichnam ihrer Mutter aufgebahrt war. Man hatte sie vollständig mit seidigen Tüchern bedeckt, wodurch nur noch ihre Konturen zu erkennen waren. Neben Mina standen einige Ratsmitglieder, aber auch Salvatorus und Herdanik verweilten auf dem Balkon. Weit unten, auf dem Hof des Palastes, drängte sich dicht die Bevölkerung, um sich von der geliebten Regentin zu verabschieden. Jeder drückte seine Trauer anders aus. Einige weinten, manche beteten, wiederum andere senkten nur schweigend die Köpfe. Die Sonne würde bald den Horizont berühren, und die Männer der Greifengarde hatten sich schon mit Fackeln im Hof aufgestellt. Am Anfang war Mina überzeugt gewesen, dass sie den Nachmittag nicht überstehen würde, doch nun stand sie hier und fühlte sich der Welt entrückt. Sie sah die unterschiedlichen Völker von Dra'Ira und empfand tatsächlich Zuneigung zu ihnen. Alle trauerten sie um ihre Mutter und zeigten ihr somit, dass auch sie trauern durfte.
»Fräulein Mina, darf ich mit Euch reden?« Herdanik war neben sie getreten. Sie hatte ihn zuerst nicht wahrgenommen, deshalb wiederholte er die Frage. Sie blinzelte.
»Ja«, antwortete sie kurz. Zwei Tränen liefen ihr die Wangen hinab.
Er räusperte sich und trat näher heran. »Es tut mir aufrichtig leid, Fräulein Mina. Es ist mir bewusst, welche Ausnahmesituation dies für Euch sein muss.«
Sie nickte. Ihr war aufgefallen, dass er sie in den letzten Stunden mit mehr Respekt behandelt hatte. Auch die Bezeichnung `Fräulein Mina´ war neu.
Er blickte zu Boden. »Salvatorus bat mich, mit Euch über die kommende Situation zu sprechen.«
»Was wollt Ihr?«, fragte sie ohne Umschweife in einem flüsternden Ton. Sie beide achteten darauf, dass die umstehenden Ratsmitglieder das Gespräch nicht mitbekamen.
»Ihr seid die einzige Tochter der Regentin und somit die Thronfolgerin. Wir – also Salvatorus und die Mitglieder der Greifengarde – werden uns für Eure Einsetzung stark machen, und ich bin mir sicher, dass wir dafür auch die Mehrheit der Stimmen im vereinten Völkerrat erhalten werden. Doch um Eure Position zu sichern und für die kommenden Tage gewappnet zu sein, müssen wir versuchen, Eure Kräfte als Drachentochter zu erwecken. Eine ganze Welt und ihr Wissen wartet auf Euch, Mina.«
Ihre Augen weiteten sich, doch sie schwieg. Sie spürte, dass Herdanik noch etwas auf der Seele lag, was er noch nicht ausgesprochen hatte.
»In der Regel ist es so, dass das Drachenblut erwacht, wenn die Zeit dafür gekommen ist«, fuhr er leise fort. »Es gibt kein richtiges Alter und keinen richtigen Weg dafür, das Erwachen voranzutreiben. Doch in Eurer Situation werden wir versuchen müssen, uns etwas einfallen zu lassen, um Euch dabei zu helfen.«
Mina wusste nicht, wie ihr geschah, doch sie
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