Erben der Macht
dem Dämon an, als er den Raum verlassen wollte. „Du auch, Nalin. Wenn ihr wollt.“
Gressyl zauberte einen bequem aussehenden Sessel neben den Diwan und eine gepolsterte Fußbank dazu, nahm Platz und beobachtete das Geschehen im Spiegel. Nalin nahm seine Schlangengestalt an und rollte sich mit Blick auf den Spiegel zusammen.
Zwischen den Bäumen des Waldes, den der Spiegel zeigte, tauchte ein Mann auf. Er trug Lederkleidung und einen Bogen in der Hand. Sein schwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht und bis auf die Brust. Bronwyn hörte ihn schwer atmen, denn er schleppte einen toten Hirsch auf den Schultern. Der Mann war offensichtlich ein Indianer. Bronwyn hatte einmal eine Reportage über die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner geschrieben. Anhand ihrer damaligen Recherchen schätzte sie, dass seine Kleidung zu einer Epoche gehörte, die mindestens dreitausend Jahre zurückliegen musste. Sie konnte kaum fassen, dass sie tatsächlich einen Menschen sah, der seit Jahrtausenden tot war.
Gebannt sah sie zu, wie der Mann den Hirsch auf einer kleinen Lichtung neben einem glatten grauen Stein ins Gras fallen ließ. Als er sich aufrichtete, sich streckte und sie sein Gesicht sah, sog sie scharf die Luft ein.
Der Mann war das Ebenbild ihres Adoptivvaters Brian Kelley.
2.
Im Wald beim Lager der Bodéwadmi,
150 Meilen südwestlich von der Südspitze des Michigansses, 1318 v. Chr.
M ondwolf ließ den toten Hirsch ins Gras fallen und atmete tief durch. Er blickte sich um und lauschte, nicht nur mit seinen körperlichen Sinnen, sondern auch mit seinen Geistsinnen. Er hörte, was die Geister des Waldes flüsterten und sein Bruder, der Wolf, in der Ferne heulte. Kein Mensch befand sich in der Nähe. Das war gut, denn Mondwolf konnte keine Zeugen dessen gebrauchen, was er zu tun beabsichtigte. Zwar hätte niemand sein Handeln infrage gestellt, er war schließlich der Schamane des Stammes, aber es hätte Misstrauen erregt, wenn bekannt geworden wäre, dass der oberste Schamane der Bodéwadmi einen der Schwarzen Geister beschwor.
Mondwolf hatte das schon früher getan und immer wertvolle Informationen von dem Schwarzen Geist erhalten, den er sich dienstbar gemacht hatte. Jedoch griff er nicht oft auf dieses Mittel zurück, denn der Umgang mit den Schwarzen Geistern war gefährlich. Schon mancher Schamane vor ihm hatte solche Kontakte nicht nur mit dem Leben bezahlt, sondern mit noch viel Schlimmerem. Doch es musste sein, denn was Mondwolf von den guten Geistern in dieser Welt gehört hatte, war dermaßen bedrohlich, dass er Gewissheit brauchte. Und falls sich seine Befürchtungen bewahrheiten sollten, musste er handeln, bevor es zu spät wäre.
Er hatte bereits vor der Jagd trockenes Holz lückenlos rund um den grauen Stein aufgeschichtet, der an diesem Ort aus der Erde ragte wie der nackte Schädel eines Riesen, und das Holz mit Fett getränkt, damit es gut und vor allem lange brannte. Jetzt fehlte nur noch das Blut. Er hängte den toten Hirsch am Ast eines Baumes auf, schnitt dessen Ader auf und fing das noch nicht geronnene Blut in einer großen Rindenschale auf. Anschließend ging er im Kreis entgegen dem Lauf der Sonne um den Stein herum und goss das Blut über das Holz, während er die vorgeschriebenen Gesänge intonierte, die ihm Schutz gewährten und verhinderten, dass der Schwarze Geist die Grenze dieses Kreises überschreiten konnte, sobald das Feuer brannte.
Mondwolf schnitt das Herz, die Leber und ein paar besonders saftige Fleischstücke aus dem Kadaver, ehe er sich auszog, sich im nahen Bach das Blut vom Körper wusch und sich anschließend in das heilige Gewand kleidete, das ihm zusätzlichen Schutz verleihen würde. Bevor er ein Feuer entfachte, sprach er ein Gebet. Danach setzte er mit einem brennenden Scheit den Holzring um den Geisterstein in Brand. Als das Feuer den Ring geschlossen hatte und lückenlos um den Stein herum loderte, begann Mondwolf, die Beschwörung zu singen, die den Schwarzen Geist rufen würde.
Es dauerte nur wenige Herzschläge, bis er erschien. Die Schamanen nannten seinesgleichen „Schwarze Geister“, weil sie zu einer Welt gehörten, die nach ihren eigenen Aussagen größtenteils finster und von Wesen bewohnt war, deren Absichten verglichen mit denen, nach denen die Bodéwadmi und ihre Nachbarstämme strebten, im günstigsten Fall schlecht und im schlimmsten zutiefst böse waren. Denn entgegen dem, was die Bezeichnung vermuten ließ, sahen manche Schwarze Geister wie
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