Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
am liebsten losgeheult. Es war durchaus möglich, dass er sie verraten würde. Aber in diesem Moment verstand er ganz genau, wie sie sich fühlte.
»Ich verspreche dir, ich bringe dich zurück, sobald das hier vorbei ist. Und bis dahin hast du dein Leben, und du hast mich. Mehr brauchst du nicht, verstehst du?«
Lily klammerte sich an sein Versprechen. Das musste sie einfach. »Ich … verstehe.«
Bevor Lily noch ihre Gedanken sammeln konnte, hatte Tynan sie bereits in Windeseile auf den Beifahrersitz bugsiert. Während er den Motor anließ und rasch rückwärts aus ihrer Einfahrt fuhr, konnte sie nur daran denken, dass das Leben, das sie liebte, das sie sich so sorgfältig aufgebaut hatte, so oder so vorbei sein würde. Dennoch gab es einen Hoffnungsschimmer in all der Düsternis. Vielleicht würde sie nun endlich in Erfahrung bringen, welcher Fluch all die Jahre auf ihr gelegen hatte. Vielleicht würde sie sogar lernen, wie sie damit umgehen konnte, wie sie die Kraft kontrollieren und, natürlich, zur Flucht einsetzen konnte, sobald sie einen brauchbaren Plan hatte.
Lily blieb still, als sie die Straße hinunterrasten und ihr Haus und alles, was ihr Leben ausmachte, hinter sich ließen. Sie sah es im Rückspiegel verschwinden, und eine einzelne Träne stahl sich ihre Wange hinab.
Jetzt war sie in den Händen eines gut aussehenden Monsters.
Und ob sie wollte oder nicht – sie war wieder auf dem Weg in die Düsternis.
6
Tys schnittiger schwarzer Lexus schoss durch die Nacht. Dass er mit solcher Geschwindigkeit über die Highways rasen konnte, war nur dank eines sehr teuren und selbstverständlich illegalen Radarfallenwarngeräts möglich, das im Armaturenbrett eingebaut war. Den Tag hatten sie schlafend in irgendeiner kleinen Stadt in Ost-Pennsylvania verbracht, und am Abend hatte Lily sich noch etwas zum Anziehen und das Allernötigste für unterwegs besorgt, weshalb sie erst spät losgekommen waren. Dabei hatte sie nicht lange herumgesucht, das musste er zugeben.
Obwohl Ty niemand war, der auf Lärm und Trubel stand, empfand er das eisige Schweigen seines neuesten Schützlings allmählich als nervtötend. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er immer wieder versucht, ein Gespräch anzufangen, und dass sie auf nichts einging, fand er zunächst nur seltsam, dann ärgerlich und schließlich deprimierend.
Das war vermutlich auch der Grund, weshalb er nicht einfach nur erleichtert war, als Lily den Mund aufmachte, sondern regelrecht entzückt.
»Dann fahren wir also nach Chicago«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen. »Zu einer Frau, mit der du gearbeitet hast.«
»Ihr Name ist Anura«, erwiderte Ty und warf rasch einen Blick auf Lilys hübsches Profil mit dem entschlossen vorgeschobenen Kinn. Als sein Entzücken für sein Gefühl eindeutig zu groß wurde, sah er rasch wieder auf die Straße.
»Sie besitzt in Chicago einen Club namens Mabon . Schon seit über hundert Jahren.«
»Einen Vampirclub.«
Das klang missbilligend, und er konnte sich das Lächeln kaum verkneifen. An Bluttrinker würde sie sich schon bald gewöhnt haben.
»Ein Vampirclub«, stimmte er zu. »Und ein sehr guter. Einer von den wenigen, die weder exklusiv für Blaublute noch exklusiv für Unterschichtvampire sind. Die Balance zu halten, ist nicht ganz einfach, aber sie kriegt das hin. Ich habe nicht direkt mit ihr zusammengearbeitet, es ist eher so, dass sie mir ein paarmal geholfen hat, als ich dringend Hilfe brauchte. Anura ist eine gute Frau. Und bei ihrem Hintergrund kann sie vermutlich dein Mal identifizieren, oder – wenn nicht – uns zumindest einen Tipp geben. Sie ist selbst ein Blaublut, und zwar ein sehr altes.« Ty musste wieder daran denken, wie anders Anuras Leben ausgesehen hatte, als er sie kennenlernte. »Auch wenn die Empusae sie nicht mehr als Schwester betrachten.«
»Blaublutvampire und Unterschichtvampire«, wiederholte sie seufzend. »Das kommt mir alles ein bisschen … veraltet vor.«
Jetzt klang sie nicht mehr missbilligend, eher verwirrt und total erschöpft. Sie tat ihm leid, aber das durfte er nicht zulassen.
»Du bist es gewöhnt, in der Welt des Tageslichts zu leben, Lily«, erwiderte er freundlich. Dass sie sich endlich mit ihm unterhielt, freute ihn mehr, als gut für ihn war. Er wusste, er hätte kalt und abweisend sein sollen, schließlich hatte er jahrelang daran gearbeitet, ein abgebrühter Jäger und Mörder zu werden. Aber wenn er so neben ihr saß, eingehüllt in ihren Geruch, und
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