Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
dieses Übels liegt, wird ihr Volk ausgerottet werden. Und wenn ich ihr diese Seherin nicht bringe oder wenn die, die ich ihr bringe, sich eher als Gefahr denn als Hilfe erweist, dann werde auch ich nicht mehr lange leben.«
Seine Worte gingen ihr nahe, auch wenn sie das nicht wollte, auch wenn sie kaum etwas davon verstand. Er wirkte so gequält, dass Lily auf einmal das ihr sonst unbekannte Bedürfnis hatte, ihn zu trösten und seinen Schmerz zu lindern.
»Es tut mir leid, was mit deinen Leuten passiert«, setzte sie an, schwieg aber gleich wieder, als sein Gesichtsausdruck auf einmal gefährlich abweisend wurde. Sofort wurde ihr wieder klar, dass ihn nicht viel von den Wesen unterschied, die ihr nach dem Leben trachteten. Sie alle waren Vampire. Monster, wenn auch nur ein Teil der Legenden zutraf.
»Das sind nicht meine Leute«, erwiderte er gereizt. »Ich bin kein Ptolemy.«
Lily sah ihn verblüfft an. Sie verstand weder, was er da sagte, noch warum er auf einmal so wütend war. »Ich dachte –«
»Ich bin ein Jäger, mehr nicht, wenn auch einer mit einer ziemlich wichtigen Aufgabe. Genug diskutiert. Was wir wissen müssen, werden wir hier und jetzt nicht in Erfahrung bringen, und wir müssen uns beeilen. Damien ist weg, aber er kommt sicher bald wieder.«
Ihr blieb keine Zeit, zuzustimmen oder abzulehnen. Wie der Blitz stand Ty plötzlich neben ihr, packte sie am Arm und zog sie aus dem Zimmer. Er tat ihr zwar nicht weh, aber sein Griff war wie ein Schraubstock, und vor lauter Verblüffung über seinen plötzlichen Stimmungswechsel ließ Lily sich widerspruchslos mitschleifen und gab sich sogar Mühe, mit seinem schnellen Schritt mitzuhalten.
Auf dem kleinen Absatz vor ihrer Haustür blieb er kurz stehen, legte den Kopf in den Nacken und schnüffelte in die Nachtluft. Lily schlug das Herz bis zum Hals. Sie war sich nicht sicher, was schlimmer war: alles mithilfe von Damien, dem psychopathischen Vampir, rasch hinter sich zu bringen oder sich auf das einzulassen, was auf sie wartete – was immer das auch sein mochte. Eine Vampirkönigin? Eine Gruppe Vampire, die sich Ptolemy nannte? Ptolemy. Irgendwie kam ihr dieser Name bekannt vor …
»Ins Auto«, sagte Tynan und holte sie damit in die Gegenwart zurück.
Er schien zufrieden mit dem, was er gerochen – oder auch nicht gerochen – hatte. Dass alles so schnell ging, versetzte sie in Panik, also versuchte sie, ein bisschen Zeit zu schinden, obwohl sie wusste, dass ihr das auch nichts mehr nützen würde.
»Aber … ich habe die Schlüssel nicht …«
Er hielt sie hoch und ließ sie vor ihrem Gesicht baumeln. Silbern glänzten sie im Mondlicht.
»Ins Auto«, wiederholte er. Dass ihr nichts mehr einfiel, schien ihm zu gefallen. Aber das hielt nicht lange an.
»Meine Tasche«, wandte sie ein und freute sich über die Grimasse, die er zog.
»Da ist nichts drin, was du brauchen wirst.«
»Aber … verdammt, Tynan, jetzt warte doch mal«, brüllte sie und stemmte die Fersen in den Boden. Doch das konnte ihn nicht davon abhalten, sie weiter in Richtung ihres Autos zu schleifen, und betrübt stellte sie fest, dass es ihn nicht einmal mehr Anstrengung kostete. Sie warf den Kopf herum und sah ihr Haus an, dessen geschlossene Tür das Chaos verbarg, das schon bald entdeckt werden würde.
Es würde übel aussehen, ganz egal, wer es entdeckte. Man würde annehmen, sie sei entführt worden.
Oder ermordet.
Vielleicht war sie das bis dahin ja auch.
»Ich habe keine Kleidung, kein Geld, nicht mal eine Zahnbürste. Tynan … warte!«
Vermutlich war es ihr gequälter Aufschrei, der ihn innehalten ließ. Er drehte sich um und sah sie an. Seine silbernen Augen, die in der Dunkelheit richtig katzenhaft wirkten, glänzten in einem Licht, das nur von innen kommen konnte. Einen Moment lang schöpfte Lily Hoffnung, dass er begreifen würde, was er da tat, dass er sie aus dem Leben herausriss, das sie liebte, einem Leben, das sie brauchte – und das alles, ohne ihr Zeit zu lassen, sich zu sammeln, ein paar Dinge zu klären oder sich wenigstens zu verabschieden.
»Versprich mir, dass du mich wieder zurückbringst«, sagte sie. Sie war so verzweifelt, dass sie sich sogar mit einer glaubhaften Lüge begnügt hätte. »Das hier ist alles, was ich habe.«
Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte, warum sie einem Fremden die traurige Wahrheit über ihr Leben eingestand. Aber nun wusste er Bescheid. Über sein Gesicht huschte ein Ausdruck von Mitleid, und sie hätte
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