Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Moment lang wandte er seinen Blick von ihr ab und lauschte, regungslos und aufmerksam. Dann zog er sich von ihr zurück und stand auf. Im Vertrauen darauf, dass er irgendeine neue Variante im Sinn hatte, blieb sie noch an jenem fernen Ort. Aber er gab ihr einen Klaps auf die Flanke und sagte: »Du, beeil dich! Das ist Wahnsinn! Noch fünf Minuten, Süße. Keine Minute länger.«
Vom Bett aus beobachtete sie ihn durch das Steuerbordfenster. Super Perspektive, dachte sie leise kichernd und griff nach ihrem Skizzenblock. Sie war schnell, aber er war schneller. Sie schaffte nur den Umriss seines angewinkelten Arms, seines gestreckten Oberschenkels und seines Oberkörpers, unter dessen Haut die Muskeln scheinbar unabhängig voneinander arbeiteten.
Die fünf Minuten waren schon lange vorbei, und sie wusste, dass sie ihren Teil beitragen sollte – eine Tasche mit dem Notwendigsten packen, Sachen verstauen, die Griffe der Schranktüren in der Küche zusammenbinden, einen Gurt um den Kühlschrank legen. Irgendwo hatte sie eine Liste über die Dinge, die zur »Sicherung des Boots bei einem Hurrikan« zu tun waren, aber sie kannte sie mehr oder weniger auswendig, da sie bereits mindestens ein Dutzend Tropenstürme miterlebt hatte. Das galt für alle Einheimischen.
Aber statt sich auf das Notwendige zu richten, waren ihre Augen entweder bei Forrest oder bei dem Stück Zeichenkohle in ihrer Hand. Das anatomische Zusammenspiel seines Körpers faszinierte sie. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war er Garnelenfischer; zwanzig Jahre lang arbeitete er inzwischen hauptsächlich körperlich. Er hatte zwar einen regen Verstand, aber er setzte ihn nicht gezielt ein, abgesehen von der merkwürdigen Besessenheit, die er für Dinge wie Astronomie oder Botanik oder das Erlernen der spanischen Sprache entwickelt hatte. Auch ihre Faszination für die Myrmekologie teilte er, und sie hatten einige großartige Expeditionen unternommen, um sich seltene Ameisenarten an exotischen Orten anzuschauen. Reisen konnten sie allerdings nur, sofern ihre Finanzen das erlaubten, was nicht allzu oft der Fall war.
Plötzlich wurde es dunkel. Von ihrer Skizze hochblickend sah sie, dass Forrest die Holzplatten einsetzte, die er für die Fenster zurechtgesägt hatte. Sie war etwas überrascht, dass er dies für erforderlich hielt. Als sie das Surren seines Akkuschraubendrehers hörte, wurde ihr bewusst, wie still es draußen war. Es herrschte die Ruhe vor dem Sturm.
Widerstrebend stand sie auf. Ein Windstoß erschütterte das Hausboot, und ein paar Minuten später ein weiterer. Sie rannte auf die Angelplattform.
»Forrest«, rief sie, »sollten wir nicht besser an Land gehen?«
Von den zwölf Fenstern des Hausboots hatte er erst die Hälfte geschafft, als der Himmel hinter ihm bereits schwarz und bedrohlich aussah. Auf dem Roosevelt Boulevard fuhren keine Autos mehr. Selbst die Vögel waren verschwunden.
»Ja, das sollten wir«, nickte er und rückte eine weitere Platte zurecht. »Die anderen haben das anscheinend auch gedacht. Bist du fertig?«
Sie biss sich auf die Lippe. »Fast.«
Forrest hielt inne und musterte die Nachbarboote. Alle waren in Erwartung des Schlimmsten mit Brettern gesichert, vertäut und verankert. »Wie lautet die Vorhersage?«
»Ich hab das Radio nicht angeschaltet.«
Er sah zu der merkwürdigen Wolkenformation hoch und runzelte die Stirn. »Mein Gott! Ich glaube, da ist ein wirkliches Unwetter im Anmarsch«, sagte er plötzlich eindringlich. »Los, Schatz, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Ein fernes Grollen war zu hören.
»Warum lässt du die Fenster nicht einfach?«
Er blickte erneut auf und musterte den Himmel. Sein langes Haar flatterte im Wind. »Nein, ich mache lieber die Bretter vor. Es kann schlimm werden.«
Hastig setzte sie sich in Bewegung und sicherte Türen und Möbel mit Spanngurten. Alles, was nicht befestigt war, warf sie auf den Boden. Gleichzeitig suchte sie im Radio nach aktuellen Wettermeldungen. Das Gerät knatterte, und zunächst fand sie keinen Sender, der einen Wetterbericht ausstrahlte. Doch plötzlich ertönte laut und deutlich eine Stimme:
»… sofortige Evakuierung der vorgelagerten Inseln. Laut den Meteorologen des Nationalen Hurrikanzentrums war es trotz des Einsatzes von Satelliten, Radar und Wetterflugzeugen nicht möglich, die Gefahr zu erkennen, da das Wettersystem weder dominante Strömungen noch ein ausgeprägtes Auge aufweist. Der Hurrikan Angelina hat seinen Kurs verlassen und
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