Erdbeerkönigin
letzte Mal etwas über Stani erzählt hat, bringt unaufgefordert ein zusätzliches Glas. »Geht aufs Haus«, sagt sie nachdrücklich, als Stani höflich ablehnen will. »Du hast so wunderschön auf Pias Hochzeit gespielt.«
Stani zuckt mit den Achseln. »Dafür bin ich doch da.« Aber er lächelt sehr zufrieden und prostet uns zu.
Wir erzählen Alissa, wie wir Stanislaw kennengelernt haben. Er sagt: »Eva war so erschrocken, als ich sagte, dass ich nicht will ins Krankenhaus.«
»Ich habe das ja zuerst gar nicht verstanden«, wehre ich mich ein wenig verlegen.
»Wenn Sie wären dabei gewesen, das wäre kein Problem«, sagt Stani und deutet schon wieder eine Verbeugung vor Alissa an.
Ich klopfe ihr auf die Schulter. »Alissa spricht neben Deutsch und Russisch auch noch Englisch, Französisch und Spanisch.«
Jetzt hebt sie die Hände. »Sprechen ist zu viel gesagt, ich habe nach dem Medizinstudium noch eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin draufgesetzt, und Sprachen interessieren mich einfach. Jetzt arbeite ich vor allem als Übersetzerin für medizinische Bücher.« Sie sucht meinen Blick. »Das war organisatorisch besser in den Griff zu bekommen, als unser Sohn noch klein war. Der Schichtdienst einer Krankenhausärztin ist nicht sehr familienfreundlich.«
Dr. Lenchen mustert uns nachdenklich. »Dann wäre Alissa aber doch genau die Richtige für dein neues Projekt, Eva. Du wirst bestimmt mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Gesellschaftsgruppen zu tun haben.«
»Neues Projekt?«, wiederholt Alissa neugierig.
»Bis jetzt ist es nur eine Idee.«
»Aber eine sehr gute. Und wenn Eva in Hamburg leben würde, wäre ich garantiert dabei«, lässt sich Dr. Lenchen hören und verzieht ihre wie immer perfekt geschminkten Lippen.
»Könnten wir auch erfahren, worum es geht? Oder wollt ihr weiter euer Insider-Gespräch führen?«, fragt Alissa und sieht Stani verschwörerisch an.
Schnell berichte ich von meiner Idee, in unserer Gegend eine Arztpraxis für Menschen ohne Versicherungsschutz und Ausweispapiere zu etablieren.
»Eine gute Idee!«, sagt Stanislaw. Er zeigt auf den Straßenverkäufer, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite beim nächsten Café die Runde macht. »Oleg wäre euer erster Patient. Er ist aus Vilnius. Er hat schon seit Wochen eine Verletzung am Fuß, aber er traut sich nicht zu einem Arzt.«
Dr. Lenchen schüttelt ärgerlich den Kopf. »Darum sollte er sich aber kümmern, so etwas kann sehr schnell schlimm werden.«
Während sie und Stani reden, hat Alissa mit gerunzelter Stirn dabeigesessen. Jetzt erhellen sich ihre Züge, und sie platzt heraus: »Ich wüsste sogar schon einen Arzt bei uns, den man fragen könnte! Der Bruder von Sergejs Kollegen Frank ist Internist in der Nähe von Fallingbostel. Ich habe ihn vor kurzem bei einem Abendessen kennengelernt. Ich könnte mir vorstellen, dass ihn das interessiert.« Sie nickt Dr. Lenchen zu. »Und Sie haben recht! Ich wäre gern dabei.«
Sie hebt ihr Glas. »Ich glaube, wir müssen noch einmal anstoßen.«
Während Dr. Lenchen und Stani sich zuprosten, flüstert mir Alissa ins Ohr: »Eine Arztpraxis für Leute ohne Krankenversicherung? Mach doch!«
Nachdem alle getrunken haben, sagt Stani etwas auf Russisch: »Живи свою жизнь и аминь.«
Alissa reißt ihre Augen auf. Sie lächelt so verwundert wie jemand, der etwas verloren hat und es an einem unerwarteten Platz wiederfindet.
Gespannt sehe ich sie an. »Was hat Stani gesagt? Oder war es etwas Persönliches?«
Alissa winkt ab. »Nein, nein, nichts Persönliches. Das heißt …« Sie lächelt noch einmal – zärtlich und wissend. Schließlich sagt sie: »Du wirst es kaum glauben: Stanislaw hat Tschechow zitiert.«
»Und was?«
»Nur: Lebe dein Leben und Amen.«
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19 . Kapitel
Was macht Dich so richtig wütend?
(Gesprächsstoff: Original)
Dienstag, Tag 14
A m nächsten Morgen hat sich Nick immer noch nicht gemeldet. Als ich aufwache, ist mir regelrecht übel, und ich weiß nicht, wie ich den heutigen Tag und Abend überstehen soll. Passend zu meiner Stimmung ist der Himmel, von dem ich vom Sofa aus nur einen kleinen Zipfel erkennen kann, in ein mattes Grau getaucht. Alissas Lächeln leuchtet gegen den Trübsinn an. »Komm, wir gehen erst einmal frühstücken, und dann müssen wir für heute Abend ja auch noch etwas zu essen einkaufen. Am besten viel Brot und Käse, Weintrauben und Nüsse«, bestimmt sie und zieht mich von
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