Erdbeerkönigin
existieren, mit denen jeder rechnen muss und lebt, der lange verheiratet ist. Nein, diesmal geht es um Prinzipien. Um die Erwartungen, die wir aneinander haben und die wir enttäuschen. Nick macht mich mit seinen Ansprüchen zur Hausfrau, die er lieber hätte. Und ich? Was will ich? Während ich stumm in meinem Kaffee rühre, bemerke ich erstaunt, dass ich mich gar nicht mehr durchweg hoffnungslos fühle. Sondern dass mich der Schmerz mit einer neuen Lebendigkeit erfüllt, wie ein Kribbeln, das sich langsam in meinem Körper ausbreitet. Es stimmt, was Alissa sagt: Ich kann alles Mögliche machen. Ich habe einen Beruf, der gefragt ist. Ich kann nach Hamburg gehen, ich könnte sogar nach Berlin umziehen. Und Benny? Mein Herz zieht sich zusammen. Aber dann sehe ich Benny vor mir, mit seinem skeptischen Augenaufschlag, dem genervten Grinsen. Zum ersten Mal erkenne ich, wie wichtig es auch für ihn ist, dass ich jetzt nicht zu Hause bin. Benny kann nur erwachsen werden, wenn ich ihn erwachsen werden lasse.
Eine wundersame Ruhe überflutet mich. Ich bin eine Seiltänzerin kurz vor ihrem großen Auftritt. Ich bin hinaufgeklettert und stehe nun sicher auf einer kleinen Plattform. Unter mir liegt die Manege, und vor mir spannt sich das schmale Seil. Ob ich auf der anderen Seite sicher ankommen werde, weiß ich nicht. Das wird sich erst zeigen, wenn ich die ersten Schritte tue. Aber noch stehe ich auf der Plattform. Fest und ohne zu schwanken. Ich atme tief ein und genieße die Pause. Ich tauche meine Messerspitze in das Marmeladenglas und bestreiche sorgfältig mein gebuttertes Croissant mit Himbeermarmelade. Danach werde ich noch einen Milchkaffee bestellen, denke ich, und dann gehen Alissa und ich einkaufen. Dieser Tag gehört Daniel. Und an Benny und Nick und die Zukunft denke ich … morgen. Das Seil werde ich noch früh genug betreten.
Hubertus und Theo sind die Ersten, die am Abend klingeln. Sie bringen Kuchen, Kekse und Salzstangen mit. Alissa und Theo richten in der Küche ein Käsebüfett an, stellen Gläser und Teller auf den Tisch und öffnen die Rotweinflaschen. Währenddessen geht Hubertus mit mir noch einmal durch die Wohnung – wir stapeln gemeinsam Bücher auf den Wohnzimmertisch, suchen CDs aus verschiedenen Winkeln der Wohnung zusammen und prüfen den Inhalt des Kleiderschranks.
Hubertus holt den Bügel mit dem dunklen Anzug, auf dem immer noch das Post-it für Maria klebt, aus der Ecke und hängt ihn nach vorn. »Ich habe mir so sehr gewünscht, dass Daniel ihn noch lange nicht tragen muss.« Er lächelt wehmütig und streicht sanft über den Ärmel. Dann wirft er mir einen Blick zu. »Und ich habe mich durchgesetzt!«
»Daniel wollte diesen Anzug tragen?«
Hubertus zuckt mit den Achseln. »Vielleicht war das nur ein verzweifelter Plan, um seine eigene Angst zu besiegen. Als ich ihn zu seinem letzten Aufenthalt in die Klinik abholen wollte, war er gerade dabei, auszumisten. ›Was meinst du‹, fragte er mich, ›ist das ein guter Anzug für die Beerdigung? Den hat mein Vater mir einmal geschenkt.‹«
Hubertus streicht über den dunklen Stoff.
»Ich konnte mit ihm darüber nicht reden – Daniel war für mich kein Anzugtyp. Er hat zwar bei offiziellen Anlässen in Anzügen gut ausgesehen, aber ich fand, er wirkte darin verkleidet. Ich sehe Daniel immer in Jeans, einem T-Shirt oder einem lockeren Baumwollhemd vor mir. In diesen Freizeitklamotten haben wir die besten Zeiten erlebt.« Er wischt sich über die Augen. »Ich wollte, dass er genauso – in Jeans und Hemd – da drüben ankommt. Damit er sich gleich mit einem Glas Wein in die Sonne setzen kann.« Hubertus seufzt. »Damit habe ich gegen seinen Willen gehandelt, ich weiß. Aber es hat mich getröstet. Kurz vor seinem Tod haben wir noch einmal darüber gesprochen, und er meinte: ›Du machst sowieso, was du für richtig hältst, das weiß ich. Und ich bin dann tot. Mir wird es vermutlich gleichgültig sein. Aber sieh zu, dass ich für da drüben passend angezogen bin.‹« Hubertus seufzt noch einmal. »Er wusste, dass ich ihn wohl am besten kannte. Und die Vorstellung, dass er jetzt … da ist, ohne Verkleidung, so wie er am glücklichsten war, dass er mir nicht fremd war, als sie ihn abgeholt haben, sondern dass ich ihn vor mir sehe in seinen abgewetzten Jeans, mit der Sonnenbrille im Haar, das hilft mir, diesen Wahnsinn durchzustehen.« Er steckt seine Hände in die Hosentaschen, und ein zärtliches Lächeln flackert über seine
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