Erdbeerkönigin
grinst.
Alexandra nimmt den Faden auf. »Bei mir waren es Mias Gummistiefel und Hundekacke. Die musste ich aus den geriffelten Sohlen kratzen und habe dabei geflucht: Und dafür habe ich Kunstgeschichte studiert!«
In dem Moment platzt es ohne Vorwarnung aus mir heraus: »Ich war sogar einmal Erdbeerkönigin!«
Einen Augenblick herrscht verblüfftes Schweigen am Tisch. Dann fragt Billie: »Was, bitte, ist eine Erdbeerkönigin?«
»So etwas wie eine Weinkönigin. Nur eben, dass ich Erdbeerkönigin war.«
Billie witzelt: »So mit Badeanzug und Schärpe?«
»Schärpe stimmt, aber statt Badeanzug war’s eine Tracht. Ich habe Märkte eröffnet, auf Schützenfesten getanzt, prominente Gäste der Region begrüßt, Preise für den besten Erdbeerkuchen verteilt.«
Alexandra sieht mich kopfschüttelnd an. »Das klingt anstrengend.«
»Ach, Unsinn. Das war schön. Ich war ja etwas Besonderes und wurde von allen sehr nett behandelt.«
Billie klopft wieder auf den Tisch. »Hofiert!«
»Nicht hofiert. Aber ich übernahm halt im ländlichen Leben eine gewisse Rolle. Wie der Schützenkönig, nur ohne Gewehr.«
»Aber du musstest nicht auf Heizdeckenverkaufsveranstaltungen herumstehen wie die letzte Miss Strandkorb?«, stichelt Billie.
»Nee, so schlimm war es nicht. Ich war ja nicht auf einer Bikini-Veranstaltung von einem abgehalfterten Schlagersänger gekürt worden, sondern von der Innung. Und ich hatte vorher Fragen über Erdbeeranbau, Naturschutz und so beantworten müssen.«
Billie legt zweifelnd den Kopf zur Seite. »Aber du wärst doch bestimmt auch so genommen worden, weil du hübsch bist.«
Ich lächle Billie zu. »Ich glaube, es war eine Kombination aus allem. Ich war nicht hässlich und ich wusste etwas über Erdbeeren.« Ich strecke den Zeigefinger aus und doziere: »Es gibt über hundert Sorten Erdbeeren!«
»Also warst du gerne Erdbeerkönigin. Oder?« Das ist wieder Alexandra.
Ich nicke. Erdbeerkönigin zu sein war für mich mehr als nur ein skurriler Titel, das wird mir zum ersten Mal klar. Erdbeerkönigin war ein Lebensgefühl. »Es hat mich glücklich gemacht, Erdbeerkönigin zu sein. Die Menschen freuten sich, über mich. Und über die Erdbeeren. Sie begrüßten mit mir ihre eigenen Kindheitserinnerungen und die Freude über den Sommer.«
Alexandra lächelt. »Stimmt. Erdbeeren sind immer Erinnerungen an den Sommer. An Kindheitsmomente: die ersten Erdbeeren, die letzten Erdbeeren, Erdbeeren mit Milch und Zucker, Erdbeereis …«
»Und dann musstest du also angetrockneten Bananenbrei von Hochstühlen kratzen.« Billie stoppt Alexandras fruchttrunkene Küchenphantasien. Sie deutet eine Verbeugung an und näselt: »Ein Affront gegen Eure königliche Hoheit!«
»In der Tat«, sage ich. »Aber der Hochstuhl musste ja sauber gemacht werden. Wenn man sich für ein Kind entscheidet, weiß man doch, dass da jede Menge Arbeit auf einen zukommt. Wie anstrengend es dann aber wirklich wird, kann man sich nicht ausmalen.«
»Glücklicherweise!«, sagt Alexandra.
Billie zeigt ihr einen Vogel. »Glücklicherweise?«
Alexandra sieht nachdenklich aus. Sie sagt: »Sonst würden doch noch weniger Leute Kinder bekommen.« Sie verschränkt ihre Finger. »Manchmal glaube ich, dass die meisten Menschen gar keine Kinder haben wollen, sondern nur Babys.« Sie knabbert gedankenverloren an einem Keks. »Mitunter kann ich das gut verstehen. Ein Baby ist weniger anstrengend als ein Kleinkind.« Als sie mich auffordernd ansieht, pflichte ich ihr bei.
»Das sehe ich auch so. Heute kann ich mir meine damalige Verzweiflung am Hochstuhl nicht mehr vorstellen. Im Gegenteil, ich sehne mich nach diesen Zeiten zurück. Nach einem Kind, das ohne Gutenachtkuss nicht schlafen wollte und am liebsten auf meinem Schoß saß.«
Alexandra erzählt: »Mia lässt sich von mir wenigstens manchmal noch umarmen.«
»Genieße es! Bald bist du nicht mal mehr ihre Mutter.«
»Was?«
»Darfst du dich noch als ›Mias Mama‹ vorstellen?«
»Ja, warum nicht?«
Ich verdrehe die Augen wie vorhin Mia und betone dann jedes Wort einzeln. »Weil! Es! Peinlich! Ist!«
Billie und Alexandra brechen in Gelächter aus.
Doch hinter unserer Fröhlichkeit ist eine leise Melancholie spürbar. Eine Traurigkeit, die in der Vergänglichkeit von allem liegt. Kinder werden groß, Eltern verwandeln sich in Nervensägen, Menschen werden alt, Menschen sterben. Alles verändert sich, alles vergeht. Das Eis, auf dem wir stehen, ist ziemlich dünn. Und so
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