Erdbeerkönigin
Transparent weist auf eine Demonstration am nächsten Wochenende hin. »Früher war das einmal ein Theater oder ein Kino, dann ist es besetzt worden, und jetzt gehört es der autonomen Szene.«
Einige Punks lümmeln auf den Eingangsstufen und trinken Bier. Sie sehen friedlich und entspannt aus.
»Heute ist alles ruhig«, fasse ich meine Beobachtungen zusammen.
»Eva, hier tobt nicht ständig der Straßenkampf«, beruhigt Alexandra mich.
Mia winkt jemandem auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Da stehen schon Zoe und Valeska!«
Alexandra drückt ihrer Tochter einige Scheine in die Hand. »Wir gehen ins Café unter den Linden, da treffen wir Billie«, erklärt sie. »Du kannst uns nachher dort abholen. Sagen wir, in zwei Stunden?« Sie sieht ihrer Tochter nach, die mit ihren Freundinnen im Eisladen verschwindet. Dann zieht sie die Schultern zusammen und seufzt. »Komm, wir laufen jetzt einen kleinen Rundkurs und dann essen wir etwas, okay? Es gibt hier schöne Geschäfte.« Sie zählt auf: »Einen Laden mit Schokolade und Kaffee. Dann der ägyptische Shop, zwei Asia-Läden. Originelle Klamotten findest du hier auch – und jede Menge Kneipen und Cafés.«
Wir schlendern einen Boulevard namens Schulterblatt hinunter, und ich frage mich allmählich, wer in Hamburg all die Bagels und Croissants und Döner isst und wie viele Liter Kaffee die Einheimischen durchschnittlich am Tag trinken können. Allein diese große Menge an Schischi-Getränken, über die wir zu Hause nur lachen würden. Was bitte ist »Frozen Chai latte?«, will ich wissen. Souverän übersetzt Alexandra: »Eistee mit Milch. Gibt’s auch als Kaffee.«
Mir tun die Füße weh und ich habe Kopfschmerzen, als wir endlich das »Café unter den Linden« ansteuern. Auf dem Weg dorthin frage ich: »Ist Billie dein Freund?«
Alexandra grinst. »Billie ist eine Frau und eine gute Freundin von mir. Sie arbeitet in der Stadt, wohnt aber auf dem Land, in Schleswig-Holstein, wo ihr Freund ein Gestüt leitet.«
Billie ist schon da und hat in dem kleinen Garten vor dem Café einen Tisch belegt. Sie hat kurze schwarze Haare, trägt ein langes, eng geschnittenes Kleid aus einem fließenden blauen Stoff und dazu schwarze Riemchenschuhe mit hohen Absätzen. Sie umarmt Alexandra lange und zärtlich. Mit einem Ziehen im Herzen denke ich an Alissa.
»Also du bist die sagenumwobene Eva!«, begrüßt mich Billie freundlich, nachdem wir bestellt haben.
»Sagenumwoben?«
»Na, erstens hat Daniel dich geheim gehalten, und zweitens hast du nachdrücklich die liebe Francesca ausgebootet.«
Alexandra lacht bitter.
»Wer ist die liebe Francesca?«, frage ich.
Alexandra und Billie tauschen einen schnellen Blick. Dann sagt Billie: »Daniels letzte Freundin.«
»Gespielin!«, korrigiert Alexandra.
»Alex!«, rüffelt Billie sie liebevoll. »So schlimm ist Francesca doch gar nicht. Sie hat sich vor allem in den letzten Tagen sehr um Daniel gekümmert.«
»Ja, weil sie sich zur leidenden Witwe stilisieren wollte. Sie sah sich schon mit Sonnenbrille und Designer-Kleid an seinem Grab eine Rede halten.«
Billie grinst mich an, während sie eine Zigarette aus der vor ihr liegenden Schachtel nimmt. »Aber da ist ihr Eva in die Parade gegrätscht.«
»Bravo, Eva!«
»Ich wusste davon überhaupt nichts. Mich hat erst Hubertus darüber informiert, dass Daniel sich gewünscht hat, ich solle die Rede halten«, erkläre ich.
Billie lässt die Speisekarte sinken. »Wieso ausgerechnet du?«
Darauf habe ich keine Antwort. »Ich bin da genauso ahnungslos wie ihr.«
Billie zieht die Augenbrauen hoch und macht dabei ein Gesicht, als würden ihr viele Fragen an mich einfallen. Ihre ersten beiden kommen prompt: »Was wirst du denn erzählen? Hast du so etwas schon mal gemacht?«
Auf die erste Frage weiß ich auch keine Antwort. Ich habe keine Ahnung, ob ich diese Rede überhaupt halten kann. Worüber soll ich sprechen? Dass ich Daniel seit zwanzig Jahren nicht gesehen habe? Dass ich ihn genau genommen gar nicht kenne? Dass ich eine wunderbare Erinnerung an einen charmanten, hoffnungsvollen jungen Mann und eine unvergessliche Nacht habe, die ich jedoch keinesfalls vor anderen Menschen und an Daniels Grab ausbreiten will? Oder soll ich davon erzählen, dass mich die Angst, Daniels Erwartungen nicht zu entsprechen und mich vor der illustren Stadtgesellschaft zu blamieren, auch in der vergangenen Nacht wieder um vier aus dem Schlaf gerissen hat? Ich entscheide mich, auf Billies
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