Erdbeerkönigin
eingehüllt. Diesmal sehe ich nicht nach unten aufs Wasser. Mein Blick geht nach innen, zurück in die erste Zeit mit Nick.
Es war kurz nach Tante Hedis Geburtstag. Als amtierende Erdbeerkönigin sollte ich das Große Erdbeerfest in Altenmöhle eröffnen. Das Volksfest auf dem Gelände des Heimatmuseums stand unter dem Motto »Rundum Erdbeere«. Dort wurden die besten Erdbeer-Rezepte – vom Erdbeerwein über Erdbeerteigtaschen bis zu Erdbeerlollis – prämiert und der schönste Erdbeerkuchen ausgezeichnet. Der Frauenchor und die Posaunengruppe traten auf, für die Kinder gab es Stände, an denen sie malen, spielen und basteln konnten. Am Abend wurde im Festzelt eine Disco veranstaltet. Der erste Tanz war der Erdbeerkönigin und dem Bürgermeister vorbehalten.
Ich stand also an jenem Abend im Eingangsbereich des Festzeltes und wartete auf meinen Tanzpartner. In Dienstkleidung – eine Variante der sogenannten Braunschweiger Tracht. Der Verband der Spargel- und Erdbeeranbauer hatte eigens für mich eine Tracht aus leichten, modernen Stoffen anfertigen lassen: Alles sah echt und traditionell aus, aber ich musste nicht unter den herkömmlichen dicken Tuchstoffen schwitzen.
Für Laien sah das Kleid inklusive gesticktem Schultertuch allerdings aus wie ein Dirndl.
Genau das sagte auch der junge Mann, der mich beim Warten auf meinen Tanzpartner ansprach: »Hübsches Dirndl, steht Ihnen gut.« Er trug einen schlichten dunklen Anzug und ein blau-weiß kariertes Hemd. Sein Blick streifte nur flüchtig die roséfarbene Schärpe, die ich oberhalb der hellen Schürze quer über meinem Oberkörper trug. Erst als er die Goldschrift auf der Schärpe entzifferte – »Erdbeerkönigin des Jahres« –, sah er mir direkt ins Gesicht. Seine blauen Augen strahlten. Ich musste nach Luft schnappen, es war, als ob ich an einem heißen Tag in das klare Blau eines Sees gesprungen wäre: kühl, erfrischend, erlösend. Er sagte etwas, das ich nicht verstand. Nicht, weil er undeutlich sprach oder die Musik zu laut war, sondern weil es mir nicht gelang, ihn gleichzeitig anzusehen, zuzuhören, zu atmen und zu stehen. Ich konzentrierte mich darauf, meine Knie, die schlagartig watteweich wurden, am Einknicken zu hindern. Es war ein Gefühl, als hätte ich mich gerade an etwas erinnert, das ich längst vergessen geglaubt hatte. Oder als ob ich jemanden wiedergesehen hätte, den ich lange gesucht hatte. Eine Ahnung von Glück, unfassbar, unermesslich, beängstigend.
Als ich Nick das später so erzählte, fragte er: »Wieso beängstigend?«
Ich musste nicht lange überlegen, ehe ich antwortete: »Weil das Gefühl von Glück auch immer bedeutet, dass man es verlieren kann.«
An jenem Abend im Festzelt legte er seine Hand auf meinen Arm und wiederholte noch einmal seine Worte. Diesmal verstand ich sie. »Mein Vater hat sich den Fuß verstaucht, und ich soll für ihn einspringen.«
Für einen kurzen Moment war ich irritiert. Er erklärte mir, dass sein Vater der Bürgermeister war, den ich erwartete, und stellte sich vor: »Ich heiße Niklas, aber alle nennen mich Nick.« Dann sah er mich wieder mit seinen klaren See-Augen an und streckte seine Hand aus. »Wollen wir?«
Noch nie war mir ein Mann so schön vorgekommen wie er. Er führte sicher, duftete angenehm, seine Hände waren kräftig und gepflegt. Ich wagte immer nur kurz, in seine Augen zu sehen, weil meine Knie dann sofort wieder zitterten. Die Blicke der Frauen im Festzelt machten mir klar, dass er auch anderen gefiel. Doch das Unglaubliche war, dass ich Nick gefiel. Er wich nach dem Tanz nicht von meiner Seite, versorgte mich mit Getränken und tanzte mit mir bis in die frühen Morgenstunden.
Während sich jetzt der Himmel über Hamburg graurosa färbt, vermischen sich die Bilder meiner Erinnerung mit Bildern unseres gemeinsamen Lebens, und ich erkenne mit überraschender Klarheit, dass ich der Wahrheit nicht entkommen kann. Wie ich es auch drehe und wende, ob ich nach Hamburg oder nach Grönland fliehe – ich liebe Nick. Wer liebt, hat keine Wahl. Es war die Furcht, dass diese Liebe zwischen Kindererziehung, Bausparvertrag, Überstunden und kleinlichen Alltagsstreitigkeiten untergegangen sein könnte, die mich zur Flucht bewegte. Und die Angst, dass in diesem Alltag auch die Erdbeerkönigin verlorenging, in die sich Nick verliebt hatte.
Er fehlt mir in diesem Moment so sehr, dass es weh tut. In meinem Magen, in meinen Schultern, in meiner Seele. Ich ziehe die Decke enger
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