Erdbeerkönigin
jetzt gelingt es mir nicht. Sie haben über mich geredet, über die Außenseiterin aus der Provinz. Ärgerlich zupfe ich an einem Nietnagel und versuche mich zu beruhigen. Verständlicherweise bemüht sich Daniels Freundeskreis herauszufinden, wer ich bin und was ich für Daniel bedeutet habe. Ich bin ja selbst damit beschäftigt. Das schwarze Wasser unter meinem Balkon gibt mir keine Antwort.
Am Ende einigten sich Billie, der Verkaufsexperte und ich uns auf ein silberweißes Paar Schuhe mit roten Streifen. Während ich bezahlte, brillierte der Verkäufer noch einmal mit einem Vortrag über den hohen Tragekomfort und das Abrollverhalten vor allem bei langen Läufen und erging sich in Lobeshymnen über den »Mittelsohlenschaum« und das optimierte Dämpfungssystem, das einer Extraportion Gel im Fersenkissen zu verdanken sei. »Damit haben Sie am Ende ein Höchstmaß an Sicherheit und dennoch ein ›weiches‹ Laufgefühl!«
Ich verriet weder ihm noch Billie, dass mich »das weiche Laufgefühl« weniger interessierte als die Frage, ob es mir überhaupt gelingen würde, mehr als fünfzig Meter am Stück zu laufen, ohne zusammenzubrechen.
Dabei bin ich nach Bennys Geburt sogar einmal in Hannover bei einem Halbmarathon gestartet. Missmutig lege ich den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Mein Leben ist eine Ansammlung von angefangenen Geschichten und aufgegebenen Vorlieben: Mode und Sport, Freunde und Ehe.
Ein Gesicht stiehlt sich in meine Gedanken: Stanislaw, der Straßenmusikant. Wenn er lächelt, wird unter den vielen Falten ein kleiner Junge sichtbar. Hinter dem gelassenen Blick der dunklen Augen schimmert ein Staunen, eine Neugier, die mich an den Blick von Kindern erinnert – voller Vertrauen in eine Welt der Rätsel und beglückenden Überraschungen. Wie gut gelaunt er sich durch das Café gebettelt hat! Überhaupt nicht wie ein Bittsteller. Eher wie ein Gast, der zufällig großartig Musik machen kann. Ich ertappe mich dabei, wie sich meine Mundwinkel bei dem bloßen Gedanken an ihn heben. Außer Alissa würde mich wohl jeder für völlig verrückt halten, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass es eine Verbindung zwischen dem Musiker und mir gibt. Wieso hat er mir das Notenblatt überlassen? Wieso sehe ich ihn ständig? Auf eine geheimnisvolle Weise hat mich Daniel in diese Tage geworfen, und es ergeben sich täglich neue Fragen. Über Daniel, aber auch über mich und über mein Leben … Ich muss mich endlich entscheiden, ob ich diese Grabrede halte. Und wenn ich mich dafür entscheide, worüber ich sprechen will. Unruhig verlasse ich meinen Balkonplatz und streife ziellos durch die Wohnung.
Im Arbeitszimmer versuche ich vergeblich, den Laptop auf dem Schreibtisch einzuschalten. Ich kenne Daniels Passwort nicht, und mit »Francesca«, »Alex« oder »Mia« komme ich nicht weiter.
In Daniels Schlafzimmer studiere ich die gerahmte Postkarte von Chardin noch einmal wie ein Bilderrätsel: die Erdbeerpyramide, das Glas Wasser, die beiden weißen Nelken. Warum hat Daniel sie aufgehängt? Ist das eine Botschaft an mich? Aber das Rätsel will sich mir nicht erschließen. Schließlich wende ich mich dem Sekretär zu, ziehe wahllos einige Schubladen auf und kämpfe gegen mein schlechtes Gewissen. Es ist schrecklich, in Daniels Sachen zu stöbern, aber ich beruhige mich damit, dass Hubertus Daniels persönlichste Dinge sicher schon längst entfernt hat.
Tatsächlich finde ich nur Belangloses. Eine Schublade ist mit Zeichenstiften und Malkreide gefüllt, in der darunter entdecke ich elektronisches Equipment für Handys, Akkustecker, Verlängerungskabel. Jetzt bleibt nur noch eine Schublade. Sie ist mit Postkarten und geöffneten Briefumschlägen vollgestopft: Briefe und Karten an Daniel. Die Postkarten sind teilweise sehr alt, Urlaubsgrüße, auf denen ich die schnörkelige Handschrift junger Mädchen erkenne. Ich entziffere alberne Sprüche und kindische Krakeleien schmierender Kugelschreiber, deren Bedeutung durch die Zeit verblasst ist.
Auf einer Karte aus Sylt steht in enger Jungenschrift:
Geschätzter Kunstbetrachter, umseitig siehst du meine Vorstudien zum Proseminar »Das Gesamtkunstwerk – Idee und Bedeutung«. Die zwei würde ich gern mal vorladen. Ansonsten alles im Lack? Hau rein, Kapelle, Hubertus
Es ist eine dieser witzig gemeinten Karten im Nostalgie-Look, auf denen alte Fotos vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu sehen sind. Hier sind es zwei junge Männer in
Weitere Kostenlose Bücher